Ein schöner Rasen gilt manchem als Kunst. Kunstrasen gibt es auch. Und Rasenkünstler, wobei der Begriff so schwammig ist, dass alles mögliche darunter fällt: Tennisprofis, Fußballer, Engländer und Leute, die mit einer Sense irgendwelche Bildchen in den Rasen mähen. Wie auch immer. Das hier ist eine Ödnis. Eine braun-grüne Wiesenödnis auf dem Kasseler Friedrichplatz, die in der Julisonne vor sich hin dörrt, Grasbüschel, Schafgarben, bisschen Müll, Zigarettenstummel. Und verteilt darauf einige rote Bänke, von denen man durch einen großen Metallrahmen auf die Hügel in der Ferne blicken kann, und die sich drehenden Windräder. Auf den Bänken sitzt gerade keiner, die Sonne!
Indonesisches Künstlerkollektiv Taring Padi: Das Banner gab nur ein kurzes Zwischenspiel auf der Documenta
Bis vor zwei Wochen stand hier Kunst. Nicht lange natürlich, zu lange. Und war das überhaupt Kunst oder doch nur Wimmelbild mit Botschaft? Eine andere Frage, die dann auch nur kurz diskutiert wurde, weil ja auch das Zwischenspiel im Nachhinein gesehen doch schnell vorüber war, welches das riesige Banner des indonesischen Künstlerkollektivs Taring Padi auf der Documenta fifteen gab.
Knapp fünf Tage stand es, acht mal zwölf Meter hoch, man musste den Kopf vermutlich in den Nacken legen, um die zwei antisemitischen Karikaturen genauer in Augenschein zu nehmen, die den Skandal entfachten. Oder das Banner mit großem Abstand betrachten. Aber nun ist es so: Nichts mehr erinnert an „People’s Justice“. In der Mitte der Documenta klafft sozusagen ein großes kunstfreies Loch, das aber ähnlich wie schwarze Löcher alles in seiner Nähe anzieht, Aufmerksamkeit, Gedanken, Diskussionen, und manches auch gleich verschwinden lässt. Am Ende vielleicht sogar die ganze Documenta fifteen selbst. Am Wochenende aber verschwand im Strudel des Skandals erst einmal Sabine Schormann, die Generaldirektorin.
Documenta-Generaldirektorin Sabine Schormann ist zurückgetreten
Tage zuvor hatte sie versucht, ihren Posten noch mit einem mehrseitigen Statement zu retten, in dem sie die Schuld von sich wies. Aber da war der Sog schon viel zu groß, veröffentlichte die Tageszeitung Welt ihre Zählung, wonach 84 an der Documenta Beteiligte „israelfeindliche“ Aufrufe unterzeichnet haben sollen. War ja auch schon Meron Mendel verschwunden, Leiter der Frankfurter Bildungsstätte Anne Frank, der sich angeboten hatte, die Ausstellung auf weitere antisemitische oder israelfeindliche Werken hin zu begutachten. Schormann nahm an, beantwortete dann aber nach Mendels Worten weder Textnachrichten noch Anrufe. Also schmiss er wieder hin. Auch weil in ihm der Verdacht gekeimt war, nur als Feigenblatt zu dienen. Was dann ebenfalls verschwand: die Installation „Animal Spirits“ der deutsch-japanischen Künstlerin Hito Steyerl, eine der wenigen Weltstars dieser Documenta. Nach dem Rückzug Mendels schickte sie eine Mail ans Documenta-Team, in der sie den Organisatoren vorwarf, keine Verantwortung für das Zeigen antisemitischer Inhalte zu übernehmen. Und dann also verschwand Schormann.
Der Skandal selbst mit seinen Beteiligten ist jedenfalls zum schwer zu überschauenden Wimmelbild geworden, auf dem es neben einer gefallenen Generaldirektorin auch eine vom Sturm zerzauste Kulturstaatsministerin zu sehen gibt sowie viele empörte Parlamentarier und entsetze Mitglieder der jüdischen Gemeinschaft. Viele Menschen auch, die mit den Zeigefingern auf andere deuten und eine große Leerstelle, über der dick Verantwortung steht. An der Leerstelle soll nun kollektiv auch mit Experten gemalt werden. Bei Taring Padi hat man gesehen, was im speziellen Fall die Schwierigkeit sein kann: „Im Rückblick sehen wir: Es gab keine Kontrolle, was die Beteiligten malen“, sagte das Kollektiv im Interview mit der Zeit: „Das soll nichts entschuldigen, ein Fehler bleibt ein Fehler.“
Documenta fifteen: Geht es Besuchern um die Kunst oder den Skandal?
Zurück zur Kunst jetzt aber. Denn natürlich ist es so, rund ums schwarze Loch findet ja tatsächlich die Documenta fifteen statt. Es kommen Besucher, in ihrem Statement hatte Schormann sogar von Rekorden gesprochen. Es gibt Führungen. Und überall Bänke, Stühle, Sitzsäcke, um all das, die Kunst, die Kultur und vielleicht auch ein Veggie-Pita in Ruhe zu verdauen. Wie finden Sie also nun die Antisemita 15? So hat Sascha Lobo die Documenta im Spiegel bezeichnet und nein, das fragt man natürlich nicht. Sondern ganz neutral. Also?
Geht es jetzt um die Kunst oder den Skandal? Fragt zum Beispiel eine Rentnerin gleich mal zurück. Denn was die Kunst betreffe: „Der globale Süden will uns etwas mitteilen.“ Aber was genau, das sei für sie schwierig zu erkennen. Sie sehe hier doch auch viel Kunsthandwerk. „Jedenfalls ist das nicht so der Kunstbegriff, den wir im Kopf haben.“ Und zum Skandal? Ihr erster Reflex sei gewesen, das Banner muss weg, aber nun, quasi als zweiten Reflex, sei sie sich nicht mehr sicher. Wer stellt sich schließlich auf eine Wiese und diskutiert?
Documenta in Kassel: Sogar den Kindern gefällt es
Wer rund um die grün-braune Ödnis fragt, hört viel ähnliches, natürlich auch anderes. „Waren Sie schon im Hübner-Areal, großartig.“ „Schauen Sie sich unbedingt die Bilder von Richard Bell an.“ „Sehr spannend.“ Und ultimativ: „Sogar den Kindern gefällt es.“ Erlebt also auch die Euphorie, die Volker Schäfer vom Verein Documenta Forum bei vielen ausgemacht haben will, die Begeisterung über Kunst aus einem anderen Blickwinkel.
Vor allem aber erlebt man die Diskussion, die die Documenta öffentlich bislang nicht geführt hat – abgesehen von einer von Mendel organisierten Podiumsdiskussion zum Thema Antisemitismus in der Kunst. Fragen also wie diese: Hätte man im Vorfeld den Vorwürfen des Antisemitismus nicht schon genauer nachgehen müssen? Wer ist eigentlich zuständig? Hätte man auf dem zentralen Platz nun nicht etwas anderes ausstellen sollen? Oder dort zumindest den Skandal thematisieren müssen? Wie soll man sich nun damit auseinandersetzen?
Über der Wiesenödnis in Kassel hängt ein Fragezeichen
Im Grunde, so scheint es, hängt über der Wiesenödnis jetzt also ein großes Fragezeichen wie nun über der ganzen Documenta, die auf den ersten Blick doch so schön bunt anders wirkt. Und die doch diese schön klingenden Wörter nach Deutschland gebracht hat. Lumbung zum Beispiel, das indonesische Wort für eine gemeinschaftlich genutzte Reisscheune, in der die überschüssige Ernte gelagert wird, und Lumbung auch als Idee, die das kuratierende Kollektiv Ruangrupa in die Documenta pflanzen wollte. Wie kann die Ernte dieser Welt gerecht verteilt werden? Zwischen globalem Süden und dem privilegierten Norden. Wie kann man gemeinsam die Zukunft gestalten? Stattdessen nun: Grasbüschel, ein bisschen Müll. Und im Hallenbad Ost stehen Menschen und versuchen auf den großen Wandgemälden mit den vielen Schweinegesichtern Spuren von Antisemitismus zu finden.
Empfindet so jedenfalls auch Taring Padi: „Manche interessieren sich für unsere Kunst, andere wollen überprüfen, ob wir Antisemiten sind.“ Der Ausstellungsort wird allein vom indonesischen Aktivistenkollektiv bespielt. In der Mitte im ehemaligen Becken steht ein roter Papppanzer, auf dem die Besucherinnen und Besucher sich mit Edding verewigen können. „Schau, da steht ,Antisemitismus sucks’“, sagt ein Besucher zu seiner Begleitung. Alles gut also. Vor der Tür aber sitzt rauchend eine belgische Kunstlehrerin, deutet auf die auf der Wiese aufgestellten Pappfiguren, viele in Workshops mit Kindern entstanden, und fragt: „Soll das eine Installation sein, oder ist das nur eine Botschaft?“ Die Documenta, sie sei voller Wörter, aber sie vermisse die künstlerische Form. Und der Skandal? Ach ja, den habe sie eigentlich gar nicht verfolgt ... Wayang Kardus heißen übrigens die Pappfiguren.
Nongkrong, ein anderes Wort. Auf indonesisch bedeutet es so viel wie gemeinsam Abhängen. Man kann sagen: Gudrun Ingratubun, Pflanzendruck- und Buchkünstlerin, schafft gerade die Grundlage für Nongkrong, zimmert also zusammen mit Norgard Kröger direkt vor dem Fridericianum am Friedrichsplatz aus alten Paletten und Bambusstangen Hochbeetbänke. Mitmachen erwünscht. Im Laufe der Documenta sollen sie noch bepflanzt werden, dann darf geerntet werden. Von ihrem Arbeitsplatz haben sie direkt auf das Banner gesehen. „Da fehlt jetzt natürlich etwas, weil es auch so etwas wie die Rahmung war.“
Die Bildsprache des Künstlerkollektivs Taring Padi kommt aus dem indonesischen Schattenspiel
Beide Künstlerinnen führen auf der Documenta als Kunstbegleiterinnen durch die Ausstellung, auch dafür gibt es einen schönen Begriff: Sobat-sobat, gute Freundinnen und Freunde. Worüber also sprechen die Besucher mit den sobat-sobat? Über die Kunst natürlich, zum Beispiel woher die Bildsprache von Taring Padi kommt, aus dem indonesischen Schattenspiel nämlich, „das wissen viele doch gar nicht“, aber dann, im zweiten Schritt natürlich auch immer über den Skandal. Wobei es so sei: Über die Kunst zu sprechen, das falle den Menschen schwerer. „Zum Antisemitismus hat jeder eine Meinung.“ Die Meinung von Ingratubun: Sie verstehe den Riesenwirbel nicht, den die Medien gemacht und damit die Ausstellung beschädigt hätten. „Die Documenta ist auf keinen Fall antisemtisch und es hat ja auch Entschuldigungen gegeben.“ Ob man die jetzt nicht einfach annehmen könne und dann weitermachen?
69 Tage dauert diese Documenta noch. Oder besser: Soll sie noch dauern. „Von den Künstlerinnen und Künstlern will niemand, dass hier zugemacht wird“, sagt Gudrun Ingratubun. Aber die Diskussion, sie spalte auch die Mitwirkenden. Über 1500 Menschen sind in Kassel mit ihrer Kunst, ihren Projekten und Aktionen vertreten, wobei die genaue Zahl keiner kennt, weil das eine Kollektiv noch das andere eingeladen hat und so weiter. Make friends – not art, lautet einer der Slogans. Man wünscht sich am Ende also so etwas wie ein Wimmelbild mit Freunden. Auf der Wiesenödnis am Friedrichsplatz aber steht man dann doch ziemlich alleingelassen herum.