Herr Biermann, Sie werden 88 Jahre. Was ist die wichtigste Erkenntnis über die Menschen, die Sie in dieser Zeit gewonnen haben?
WOLF BIERMANN: Das schöne Wort „menschlich“ hat in unserer Sprache zwei entgegengesetzte Bedeutungen: die allerbeste und die schlechteste. Wenn einer feige, kleingeistig und eigensüchtig ist, sagt man: „Tja, menschlich!“ Ein Fehlverhalten wird als menschlich im Sinne von „wir sind doch alle nur Menschen!“ entschuldigt. Gleichzeitig verlangen wir „menschliche“ Lebensbedingungen - und meinen damit höchste humanistische Ziele wie die Achtung der Würde des einzelnen Menschen und freie Meinungsäußerung.
Welche Rolle spielt dabei das Schreiben von Liedern und Texten? War es wichtiger, zu analysieren und Botschaften zu senden, oder ist dies eine Art innere Ventilfunktion?
BIERMANN: Wenn mir ein starkes Gedicht gelingt oder ein schönes Lied, kann ich Gift und Galle im Streit der Welt gut aushalten. Dann habe ich ein funktionierendes Ventil für den Überdruck meines Herzens.
Ein Album mit Coverversionen Ihrer Stücke mit dem programmatischen Titel „Lieder für jetzt“ kommt an Ihrem Geburtstag auf dem Markt. Wie kam es dazu?
BIERMANN: Es war die Idee meiner Frau Pamela. Sie ist eine Generation jünger als ich und hat den noch einmal um zwanzig Jahre jüngeren Musikproduzenten Johann Scheerer gewinnen können, dieses Coveralbum zu initiieren. Die Künstler, die er dafür zusammengebracht hat, haben sich selbst ein Lied gewählt.
Das Hamburger Indie-Label Clouds Hill hat sich die Rechte an Ihrem Gesamtwerk – immerhin rund 300 Titel - gesichert. Clouds Hill-Chef Johann Scherer will dafür sorgen, dass die Lieder von einer nachwachsenden Generation gehört werden. In dem neuen Album erscheinen viele Ihrer Stücke in neuem Gewand. Wie gefallen Ihnen die Versionen?
BIERMANN: Ich bin sehr überrascht, und zwar positiv, was dabei alles zutage kam. Am Anfang war ich ja eher skeptisch und dachte an einen sarkastischen Vers von Heinrich Heine, der besagt, dass ihm so neumodische Lieder vielleicht gefallen könnten, wenn er „andre Ohren hätte.“ Inzwischen aber kenne ich den Sound meiner jüngeren Kollegen und freue mich an den extrem verschiedenen Interpretationen. Und habe mir den spöttischen Vierzeiler von Heine umgeschrieben. Der Heine hat gelacht und war mit meiner kessen Umdichtung einverstanden: Andre Zeiten, andre Vögel, / Singen meine alten Lieder / Mir gefällt es, denn mir wachsen / Endlich auch mal andre Ohren!
Kann man mit Liedern die Gesellschaft heute noch beeinflussen?
BIERMANN: Das konnte man schon immer. Aber so was gelingt nur, wenn man es nicht krampf-eifrig darauf anlegt. Wie ein Lied wirkt, ist zudem oft anders, als man dachte, und kann auch über unvorhergesehene Umwege gehen.
Was bedeutete Ihre Ausbürgerung aus der DDR rückblickend für Ihr eigenes Leben?
BIERMANN: Im November 1976, nach elf Jahren Totalverbot in der DDR, gab ich mein erstes Konzert im Westen vor 8.000 Menschen, in der riesigen Kölner Sporthalle. Drei Tage danach wurde ich von Honecker & Co. mit politischen Pauken und Trompeten ausgebürgert. Die massenhaften Proteste im Osten gegen diesen Willkürakt in der Nazitradition einer Zwangsausbürgerung erschütterten damals nicht nur die DDR-Diktatur. Mein Leben als verbotener Dichter war vorbei. Wozu noch die Gitarre! Ich war ja der gelernte kleine Drachentöter mit einem klingenden Holzschwert. Plötzlich musste ich die Freiheiten der fremden Westwelt begreifen. Die Chancen und Tücken der Demokratie musste ich neu lernen. Damals war ich niedergeschmettert, heute weiß ich, es war mein großes Glück.
Wie stehen Sie grundsätzlich zu den aktuellen Entwicklungen der Politik? Eine Demokratiemüdigkeit ist bei Teilen der Bevölkerung unübersehbar. Warum ist sie in den neuen Bundesländern so ausgeprägt?
BIERMANN: Die Deutschen im Osten haben nach dem Weltkrieg die große Rechnung für unser ganzes Heil-Hitler-Volk teuer bezahlt: Sie gerieten über vierzig Jahre lang in eine zweite Diktatur. Sie wurden kommunistisch unterdrückt, geformt und natürlich auch beschädigt. Die Allermeisten haben es mitgemacht. Solch polit-psychisches Erbgut wird weitergegeben an die Kinder. Wir spielen ja alle fast automatisch Gott und formen unsere Nachgeborenen nach unserem Ebenbild. Ja, und solche Prägungen vererben sich im Privaten wie im Politischen eben dauerhafter, als wenn eine Diktatur zwölf oder 40 Jahre herrscht.
Stehen wir vor einer Renaissance der autokratischen Systeme?
BIERMANN: Im Moment sieht die Welt in der „Tagesschau“ so aus. Der Kriegsverbrecher Putin, sein Quisling Lukaschenko, der falsche Augenarzt Assad in Syrien, der fanatische Moslem Ayatollah Khamenei im Iran, der kommunistische Kaiser in China Xi Jinping, der fette Meuchelmörder Kim in Korea, die Castro-Karikatur Maduro, die fundamentalistischen Taliban, die Massaker-Machos in Afrika, die verlogenen Theokraten und selbstbesoffenen Autokraten im Nahen Osten. Wenn dieses Interview in der Zeitung steht, werden die Leser wissen, was ich nicht weiß: Ob der faschistische Fake-Fuzzi Trump die Wahlen in den USA gewonnen hat.
Wogegen würden Sie heute protestieren, wenn Sie noch einmal 20 wären?
BIERMANN: Ach, es ist der ewig neu-alte Streit in der Welt. Die Antwort auf Ihre Frage kennen wir alle - und können Goethe zitieren. Der legte seinem alten Doktor Faustus an seinem Grabe diese allerletzten Worte in den Mund: „Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, / Der täglich sie erobern muss.“ Diese Maxime gilt, solange es uns Menschen gibt, und immer wieder neu. Sie gilt für den Zwanzigjährigen genauso wie für den Greis Wolf Biermann.
Wolf Biermann
Der Lyriker und Liedermacher wurde am 15. November 1936 in Hamburg geboren und übersiedelte 1953 in die DDR. Zum SED-Kritiker gewandelt, wurde er 1976 während eines Aufenthalts im Westen wieder ausgebürgert. Biermann ist der politische einflussreichste deutsche Liedermacher seiner Generation.
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