Am Gymnasium in Pullach läuft die letzte Schulstunde vor den Osterferien. Eine überpünktliche Mutter wartet bereits in einem E-Auto vor dem Schultor, während zwei Oberstufenschülerinnen an den überfüllten Fahrradständern gemächlich nach einem freien Platz suchen. Über dem Haupteingang ihrer Schule prangt das Corpus Delicti, ein Schriftzug, grau auf Schwarz: Otfried-Preußler-Gymnasium. Nach einer überhitzten Debatte über die Namensgebung der Schule glätten sich die Wogen so langsam. Zeit, die Dinge einmal in Ruhe zu betrachten.
"Zeitgeistkonformität", "Cancel Culture", "Hexenjagd" – auf die Schule in der kleinen Gemeinde südlich von München ist einiges eingeprasselt in den vergangenen Wochen und Monaten. "Ich finde es erstaunlich, wie reflexhaft die Leute eine Meinung zu dem Thema haben", sagt Marion Kraus. Die Pullacherin steht im Ortskern vor dem offenen Bücherschrank, aus dem man sich kostenlosen Lesestoff nehmen kann. "Ich bin selbst Lehrerin und Germanistin. Über die Osterferien habe ich mir vorgenommen, mich mit dem Thema auseinanderzusetzen und mir dann eine fundierte Meinung zu bilden."
Das Thema, von dem sie spricht, ist folgendes: 2014 benannte sich das damalige Gymnasium Pullach in Otfried-Preußler-Gymnasium um. Die Schulleiterin, deren Vater offenbar ein Freund des Kinder- und Jugendbuchautors war, hatte sich mit diesem Vorschlag gegen die Mehrheit des Gemeinderates durchgesetzt. Nun, zehn Jahre später, soll die Schule nach dem Willen von Schülern, Eltern und Lehrerschaft wieder rückbenannt werden. Auslöser ist unter anderem "Erntelager Geyer", ein Frühwerk des Schriftstellers, in dem Preußler die Hitlerjugend verherrlicht und mit dem er sich nach Ansicht der Schule nie kritisch auseinandergesetzt hat. Über fünf Jahre haben zwei Lehrer gemeinsam mit Schülerinnen und Schülern in einer Arbeitsgemeinschaft zur NS-Vergangenheit Otfried Preußlers geforscht und über sein (Lebens-)Werk diskutiert. Und dann entschieden, dass die Schule seinen Namen nicht mehr tragen soll.
"Ich weiß nicht so recht, was im Pullacher Gymnasium für eine Vorstellung von der Zeit des Nationalsozialismus und jenen Jahrgängen existiert, die in die Vernichtungsmaschinerie der Nazis als junge Leute hineingezogen wurden", sagt Literaturwissenschaftler Carsten Gansel zu den Diskussionen. Für seine Biografie "Kind einer schwierigen Zeit. Otfried Preußlers frühe Jahre" hat er sich mit "Erntelager Geyer" beschäftigt und im privaten Nachlass und öffentlichen Archiven zur Jugendzeit Preußlers recherchiert. "Wir sollten nicht vergessen: Otfried Preußler war Jahrgang 1923, in der Hitlerjugend waren Ende der 1930er-Jahre, soweit ich mich erinnere, um die 90 Prozent der Jungen organisiert. Das war im Sudetenland nach dem Anschluss an Hitlerdeutschland nicht anders", versucht Gansel einzuordnen.
Er befindet sich derzeit im Ausland und beantwortet Fragen zur "Causa Pullach" per E-Mail. Man könne kaum von "Nazi-Karrieren" im Stile eines Heinrich Lübke – ehemals Bundespräsident – oder Hans Filbinger, früherer baden-württembergischer Ministerpräsident, sprechen. Sie seien zum damaligen Zeitpunkt älter und stärker in Strukturen des sogenannten Dritten Reichs wie NSDAP, Schulen, Gerichte oder Militär verstrickt gewesen als der junge Preußler. Und was Gansel auch für wichtig hält: "Wir sollten uns vor Augen führen, dass erst ab etwa Ende der 1970er-Jahre eine wirklich kritische Auseinandersetzung mit dem Handeln im Dritten Reich begann. Es ging in der Folgezeit zudem um den Holocaust. Sich über eine HJ-Mitgliedschaft überhaupt Gedanken zu machen, ich glaube, das hat man in den betroffenen Jahrgängen damals und auch nach 2000 nicht getan", schreibt Gansel. Es habe einfach als "normal" gegolten, in die Hitlerjugend einzutreten. "Preußler sah keinen Grund, sich zu erklären."
Otfried Preußlers Familie kommt aus dem Sudetenland
Nicht öffentlich, aber auch nicht privat in der Familie sprach Otfried Preußler über seine Jugendzeit in der Diktatur, erinnern sich Susanne Preußler-Bitsch, die jüngste der drei Töchter des Schriftstellers, und ihr Sohn Lorenz Bitsch. Letzterer arbeitet ebenfalls im Literaturbüro Otfried Preußler, das die promovierte Historikerin Preußler-Bitsch seit über 25 Jahren leitet. Seit dem Tod ihres Vaters zeichnet sie als Testamentsvollstreckerin auch für den literarischen Nachlass verantwortlich. "Bei uns in der Familie war mehr die Vertreibung das Thema", erinnert sich Preußler-Bitsch. 1945 mussten die Familien ihrer Eltern die Stadt Reichenberg im Sudetenland, das heutige Liberec in Tschechien, verlassen. Über Umwege kamen sie nach Oberbayern, wo Otfried Preußler nach der Entlassung aus der russischen Kriegsgefangenschaft zu ihnen stieß.
Dass man sich am Gymnasium in Pullach intensiv mit ihrem Vater auseinandersetzt, findet die Historikerin grundsätzlich wichtig. Probleme habe sie aber, "wenn mit dem heutigen Blick etwas eingefordert wird, das damals kein Thema war. Ich finde es falsch, wenn jede Generation sich das Recht nimmt, mit ihrer eigenen Brille über Geschichte zu urteilen, ohne die Dinge in den notwendigen zeitgeschichtlichen Kontext einzuordnen." Vor allem, wenn dies zu Schlüssen führe, die auf falschen Tatsachenbehauptungen basierten und zum Teil auf fragwürdigen Quellen – wie sie es im Falle der schulischen Forschungen sieht.
Enkel von Otfried Preußler ist fassungslos über "Stilisierung" seines Großvaters
"Es ist schon einzigartig, wie mein Großvater in Pullach zu einem Nazi-Kader stilisiert wird", ergänzt Lorenz Bitsch, "und diese Auffassung wird nirgendwo in der Wissenschaft geteilt." Vielmehr seien sich alle einig, dass die Aufarbeitung seiner Jugend im Nationalsozialismus ein Lebensthema Otfried Preußlers gewesen sei, das er immer wieder literarisch verarbeitet habe – am deutlichsten in "Krabat", aber auch in der "Kleinen Hexe", in der es laut Bitsch "um Wertvorstellungen geht, die bis heute Gültigkeit haben: Respekt, Liebe, Toleranz und eine klare Ablehnung des Verrats, des Missbrauchs und der Denunziation".
Aber dazu gibt es in Pullach eben andere Ansichten.
Die Pullacher Kulturamtsleiterin Hannah Stegmayer schaut zwiegespalten auf die Sache. "Ich finde es bemerkenswert, dass sich die Schüler so mit dem Thema Nationalsozialismus auseinandersetzen", sagt sie, "aber für eine Literaturdebatte taugt der Preußler überhaupt nicht." Die Diskussion sei völlig aus dem Ruder gelaufen. "Die Leute wollten einfach mal wieder über Political Correctness sprechen. Wer den Anlass dafür gibt, spielt überhaupt keine Rolle." Wie die Schule findet auch Stegmayer, dass Preußler, anders als Günter Grass, sich nie mit Nazideutschland auseinandergesetzt habe: "Der hat harmlose Kinderbücher geschrieben. Nicht einmal 'Krabat' nehme ich davon aus."
Zu Pullach hatte Preußler keine Verbindung
"Gecancelt", also ausgelöscht, wie von vielen auch aus rechten Kreisen behauptet, wird der Autor in Pullach aber nicht. Das Theater Fiesemadände spielt im Bürgerhaus Pullach Ende April "Hörbe mit dem großen Hut". Und auch in der örtlichen Buchhandlung stehen "Die kleine Hexe" und "Das kleine Gespenst" weiterhin ganz vorn im Kinderbuchregal. Vor der Buchhandlung steht der Pullacher David Rampel: "Ich habe Freunde, die auf die Schule gegangen sind. Die konnten mit dem Namen nie etwas anfangen, darum ist denen das Ganze auch völlig egal."
So wie Rampel und seinen Freunden scheint es vielen Pullacherinnen und Pullachern zu gehen. Wenn, dann geht es eher um die Kosten, die die mögliche Umbenennung verursachen wird. Anwohner Wolfgang Kässer findet, dass man diese Kosten hätte verhindern können, wenn man die Diskussion vor der ersten Umbenennung geführt hätte: "Jetzt hat man immerhin die Möglichkeit, den Fehler wieder gutzumachen, dass man überhaupt ein Gymnasium nach einem Kinderbuchautor benannt hat, der mit der Stadt keinerlei Berührungspunkte hatte." Das ist noch so ein Aspekt: Preußler lebte lange in Haidholzen im Kreis Rosenheim und starb 2013 in Prien am Chiemsee, zu Pullach gibt es in seiner Biografie keine Verbindung.
Jetzt befasst sich das Kultusministerium mit dem Fall Preußler
Wie das Gymnasium künftig heißt, entscheidet in letzter Instanz das Kultusministerium. Der Antrag auf Umbenennung werde zurzeit geprüft, teilt eine Sprecherin mit. Mit einer Entscheidung sei in den nächsten Wochen zu rechnen. Es ist nicht das erste Mal, dass sich das Ministerium vor eine Entscheidung dieser Art gestellt sieht.
Wie umgehen mit Persönlichkeiten, die einst als vorbildhaft galten, aber der kritischen Auseinandersetzung der Geschichte nicht mehr standhalten? 2014 wurde das Wernher-von-Braun Gymnasium im Kreis Aichach-Friedberg in Staatliches Gymnasium Friedberg umbenannt. Auch damals hatte es weit über Friedberg hinaus hitzige öffentliche Diskussionen gegeben, ob sich der Raketenpionier wegen seiner Verstrickungen in das Nazi-Regime als Namensgeber eines Gymnasiums eignet. Oder der Komponist Werner Egk. Er war Namensgeber einer Grundschule in Augsburg. 2019 entschied der Stadtrat, den Namen zu ändern, weil Egk als Nutznießer und Repräsentant der Nationalsozialisten galt.
Die Person Otfried Preußler, seinen Wert als großer Kinderbuchautor, sehen viele Menschen offenbar nicht beschädigt, auch wenn sein Name in jüngster Zeit öfter im Zusammenhang mit der Hitlerjugend als mit seinen Büchern fiel. Enkel Lorenz Bitsch erzählt von vielen Solidaritätsbekundungen von Lehrern, Bibliothekarinnen, Buchhändlern und Leserinnen.
Die Fahrradständer an der Schule sind mittlerweile leer an diesem letzten Schultag vor den Osterferien. Nur eine Handvoll Jugendlicher steht noch auf dem Pausenhof im Kreis und läutet die freie Zeit mit lauter Partymusik ein. Wenn das Kultusministerium es zulässt, gehen sie im kommenden Schuljahr nicht mehr aufs Otfried-Preußler-Gymnasium, sondern wieder auf das Staatliche Gymnasium Pullach.