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Debatte: Warum uns der Krieg in der Ukraine so sehr schockiert

Debatte

Warum uns der Krieg in der Ukraine so sehr schockiert

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    Ikonenmalerei im Nationalmuseum der ukrainischen Hauptstadt.
    Ikonenmalerei im Nationalmuseum der ukrainischen Hauptstadt. Foto: akg-images

    In Denis Villeneuves klugem Film „Arrival“ stößt eine Linguistin im Kontakt mit Außerirdischen auf ein Sprachsystem, das nicht linear, sondern zirkular aufgebaut ist. Es handelt sich dabei also um eine Grammatik der Gleichzeitigkeit, die entgegen unserer Sprachgewohnheiten nicht von A nach B schreitet und damit zwangsläufig das Vergangene, und sei es nur einen Halbsatz her, hinter sich lässt, sondern im Moment dieses extraterrestrischen Sprechakts sichtbar werden lässt, was passieren kann, was auch immer passiert sein werden wird. Und sei es das Schrecklichste.

    Menschen suchen Schutz in einem Keller eines Gebäudes, während die Sirenen neue Angriffe ankündigen. Russland hat am Donnerstag einen umfassenden Angriff auf die Ukraine gestartet und Städte und Stützpunkte mit Luftangriffen oder Granaten beschossen.
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    Am Donnerstag hat Russland die Ukraine angegriffen. Menschen sind auf der Flucht und verlassen die Städte. Unsere Bilder zeigen Szenen des Kriegs.

    Klingt kompliziert? Warum diese Vorrede? Weil wir uns offensichtlich zu sehr an ein Fortschreiten von A nach B, dann C, dann immer so weiter und mit anderen Worten: an einen Satzbau des Fortschritts gewöhnt haben. Das hat wie gesagt vielleicht mit unserer Art zu sprechen, zu schreiben zu tun, auch mit Hegel und dessen galoppierenden Weltgeist, kurz: Der Annahme, dass alles (und man möchte hinzufügen: wenn schon nicht) besser, mindestens anders wird – sich jedenfalls niemals wiederholt.

    Geschichte wiederholt sich nicht? Eine Farce.

    Doch diese Art zu denken und zu kommunizieren ist ein Trugschluss, so praktikabel sich dieser auch immer erwiesen und zur Konstitution und zum Erfolg der westlichen Welt beigetragen haben mag. Geschichte wiederholt sich nicht? Eine Farce. Sie tut es doch, womit wir im Osten angelangt wären und dem Schauplatz eines Konfliktes, Krieges, der weit über die Ukraine hinausreicht. Weil er uns, die Politik und Teile der westlichen Gesellschaft, so offensichtlich erschüttert, dass man mit Verlaub nicht glaubt, dass es dabei nur um die Sorge um den Donbass, Demokratie, um das zweitgrößte Flächenland Europas, auch nicht um verbilligtes Erdgas und nicht um das Völkerrecht geht, so oft es in den letzten Tagen auch bemüht wurde (und an anderen Tagen wiederum nicht).

    Putins Krieg in der Ukraine bricht die alltägliche Sicht auf Gut und Böse

    Nein, die Erschütterung reicht vielleicht deswegen so tief, weil die eingeübte Rationalität eines wie auch immer gearteten Fortschritts und ja, damit auch in mancher Sicht Rationalität überhaupt hintergangen wird. Ohne diese eingeübte, lineare Rationalität, ohne dieses wenn A dann B, schwindet aber die Geschäftsgrundlage des gepflegten Immer-weiter-so (wird schon irgendwie gut gehen und uns geht’s ja auch gut, beziehungsweise: ging’s).

    Links: Zerstörtes Wohnhaus in Kiew. Rechts: Ikonenmalerei im Nationalmuseum der ukrainischen Hauptstadt.
    Links: Zerstörtes Wohnhaus in Kiew. Rechts: Ikonenmalerei im Nationalmuseum der ukrainischen Hauptstadt. Foto: Maia Mikhaluk, dpa

    Dieser bisweilen sehr mechanistischen Sicht- und Sprachweise wird nun eine eher manichäische entgegengesetzt, es gibt – nicht nur bei Putin – wieder so etwas wie „gut“ und „böse“, und mag das vermeintlich Gute in seinem Fall auch 100, ja sogar 1000 Jahre zurückliegen. Das Zurück aber ist bei uns nicht vorgesehen (wie im Übrigen das Rückwärtssprechen eher eine Sache für Horrorfilme ist).

    Ein Horror jedenfalls in der Tat. Und damit kein Zweifel aufkommt: Dieser Horror, diese Fassungslosigkeit angesichts dessen, was da in der Ukraine, in Europa passiert, ist auch noch beim Schreiben dieser Zeilen zu spüren. Und doch und umso mehr gilt es, sich schreibend zu fragen, warum das so und was vielleicht schief gelaufen ist. Warum es so schwer fällt, zu verstehen, was da überhaupt gelaufen ist.

    Das klingt jetzt nach vorweggenommener Verdrängung

    Wobei, abgeschlossen ist es ja noch lange nicht, im Gegenteil und wie es jetzt allenthalben heißt, wird dieses Ereignis noch lange nachhallen, „in die Geschichte eingehen“. Das ist einerseits natürlich richtig, andererseits klingt das aber auch ein bisschen nach einer Art vorweggenommener Verdrängung oder genauer: der Hoffnung darauf, dass es schnell Vergangenheit sein möge. Die Rede ist hier wohlgemerkt vom eingangs erwähnten Verarbeitungsmechanismus einer Gesellschaft, auf die keine Bomben fallen, in der keine Menschen sterben – und die den Krieg nurmehr als Angelegenheit für Historiker (wenn auch nicht den selbst ernannten im Kreml) angesehen hat.

    Für unsere Nachbarn im Osten Europas war er aber schon lange eine ganz konkrete Bedrohung, und mit ihren Mahnungen und Warnungen sollten sie nun auf fürchterliche Weise recht behalten. Hätte man es also besser wissen müssen statt schockiert von einem Tag auf den anderen in einer „anderen“ Welt aufzuwachen? Im Nachhinein weiß man immer alles besser, wie auch die zahlreichen Wortmeldungen und Kommentare der letzten Tage zeigen.

    Fest steht aber auch, dass die Rede vom „Ende der Geschichte“, das der US-amerikanische Politologe Francis Fukuyama nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ausrief, schon immer eine hohle war. Es gibt wie gesagt kein Ziel von Geschichte und es ist ebenso wenig gesagt, dass sie sich zum besseren entwickelt.

    Die Utopie einer unipolaren Welt

    Und das hätte man freilich wissen können. Denn in Wahrheit endete nichts, endete die viel beschworene Ordnung nach dem Fall des Eisernen Vorhangs nicht erst an diesem 24. Februar. Vielmehr verdeckte die damalige Utopie einer unipolaren Welt, die sich zwangsläufig zum Guten entwickle, nur die weiter bestehende Unordnung.

    In Wahrheit leben und lebten wir – aller Illusion eines Fortschritts, also eines Fortschreitens – schon immer in einer Gegenwart der Gleichzeitigkeit, des Nebeneinanders von kleinem Glück und großem Unglück. Und man muss dazu nicht einmal die Jugoslawien-Kriege, den 11. September oder sonstige Erschütterungen bemühen, die den Westen unmittelbar betrafen. Auch nicht ein Virus, das uns zuletzt so irritiert und die Verletzlichkeit unserer Gesellschaft vor Augen geführt hat (und wie unsäglich wirken jetzt mit einem mal die ganzen Proteste und „Freiheit“Krakeelereien).

    Es wurde etwas verdrängt

    Nein, überall auf der Welt gab und gibt es Katastrophen, Schrecken und Krieg. Irgendjemand schrieb dieser Tage, dass die junge Generation letzteren nur noch aus Computer-Spielen kenne. Und wenn damit eine unmittelbare Zeitzeugenschaft des eigenen Erlebens gemeint ist, mag das stimmen. Aber auch für den Großteil unserer Gesellschaft ist das Leiden der Welt ein vermitteltes, etwas, das man nur aus den Medien kennt. Ist es deswegen weniger real?

    Realistischer vielleicht die These, dass hier lediglich etwas verdrängt wurde, was man aus der Individualpsychologie ja kennt und da durchaus Sinn macht – alleine, weil man ansonsten gar nicht mehr weitermachen könnte. Weitergemacht wurde aber, musste ja, in dem uns eigenen Modus einer nach vorne gerichteten Geschäftigkeit. Und noch die in der aktuellen Krise eingangs eingeschlagene Logik „stufenweiser Sanktionen“ zeugt von dieser Auffassung der Realität als Problem bloßen Managements. Bloß: Was passiert, wenn jemand dieser Art von Rationalität nicht folgen will?

    Die russische Grammatik kennt drei einfache Zeitformen, und für Putin scheint klar: Die Gegenwart ist nicht von Interesse, nur die Vergangenheit hat eine Zukunft. Und dass er bei seinem Versuch, ein wie auch immer geartetes Großreich zu re-installieren in Kauf nimmt, selbst bald Vergangenheit zu sein, macht es nur noch gefährlicher, macht ihn noch unberechenbarer.

    Wir sollten uns an den Gedanken gewöhnen, dass das auch für die Welt im Ganzen gelten könnte.

    Alle Informationen zur Eskalation erfahren Sie jederzeit in unserem Live-Blog zum Krieg in der Ukraine.

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