Was ist dran an diesem Mann, dass selbst Intellektuelle wie kleine Kinder um die Deutung seines Werkes stritten, etwa darüber, ob man die rätselhaften Stoffe des US-Filmemachers überhaupt mit hermeneutischen Methoden entschlüsseln kann? Da gab es die Ansicht, er könne womöglich ein echter Gaudibursch sein, der sich einen Spaß daraus gemacht habe, zu beobachten, wie seine Klientel nach dem tieferen Sinn stochere. Andere wiederum zogen sich Filme wie „Lost Highway“ (1997) und „Mulholland Drive“ (2001) bevorzugt nachts rein, weil sie sich damit der dunklen Seite des Regisseurs nähern wollten. Wie tickt er, wie viel Melancholie, Sadismus oder gar Untergangssehnsucht stecken in David Lynch?
Bei der Suche nach der Wahrheit empfiehlt es sich, seine künstlerischen Zahnarztfotos zu betrachten, die den Titel „Dental Hygiene“ tragen. Eine Praxis. Das normale Equipment eines Zahnarztes, Spiegel, Bohrer, der weit aufgerissene Mund der Patientin, ein Augenpaar hinter einer Maske, Hände in Latexhandschuhen, Zahnseide. Mit einem Mal wird daraus ein Seil, kunstvoll aufgespannt von der Mörderin. So fühlt sich der Horror im Alltäglichen an, den David Lynch wie kein Zweiter abbilden und im kollektiven Gedächtnis verankern konnte. Bei ihm geriet er zur Schönheit des Schreckens.
Und plötzlich ist da ein abgetrenntes Ohr
1986 brachte er „Blue Velvet“ in die Kinos – mit einer legendären Eingangssequenz. Die Kamera überm Rasen, Blumen sprießen, ein Mann gießt das satte Grün. Plötzlich greift er sich ans Herz, fällt zu Boden, mit ihm sinkt auch die Kamera nach unten. Sie kämpft sich durch die hohen urwaldartigen Halme und stoppt vor hunderten von Käfern, die gierig über etwas herfallen. Es ist ein abgetrenntes Ohr.
Nicht die einzige Szene, mit der dieser Dalí der Großleinwände das Gefühl vermittelte, dass im menschlichen Denken und Handeln immer etwas Hässliches, Finsteres sein könnte, das sich nicht erklären lässt. Das Grauen im normalen Leben beschwor er in zahllosen Variationen herauf, mit Vorliebe im Kleinstadtidyll „Twin Peaks“, das in den 1990er Jahren samt stilbildendem Vorspann massenhaft Serienjunkies generierte. Jeder seiner Filme hätte ihm dazu gedient, in eine fremde Welt einzutauchen, zu der er sonst nie Zugang erlangt hätte, sagte Lynch einmal. Dabei folgte ihm eine exquisite Darstellerriege, von Willem Dafoe über Dennis Hopper und Harry Dean Stanton bis hin zu Isabella Rossellini. Durch seine Besetzungsentscheidungen initiierte er viele Karrieren, etwa die von Kyle MacLachlan oder von Naomi Watts.
Lynch thematisierte explizit die Gewalt
Verglichen mit seinem genialisch abgefahrenen Debüt „Eraserhead“ (1977) war sein herzzerreißendes Drama „The Elephant Man“ (1980) mit John Hurt in der Titelrolle eher konventionell erzählt. Zehn Jahre später legte „Wild at Heart“ mit dem famosen Pärchen Lula (Laura Dern) und Sailor (Nicolas Cage in Schlangenlederjacke) den Blick auf den Romantiker in ihm frei, ohne jedwede Berührungsängste gegenüber Kitsch - und Gewalt. Die hatte David Lynch schon vor Quentin Tarantino thematisiert, vor allem die Gewalt an Frauen. Die Menschen rannten scharenweise aus den Kinos, als sie auf der Leinwand mitansehen durften, wie sich der Gangster Bobby Peru (Willem Dafoe) in „Wild At Heart“ mit einer Schrotflinte den Kopf weg schoss. Dennoch gewann die cineastische Blutorgie in Cannes die Goldene Palme.
In seinen letzten Jahren drehte er Kurzfilme und schrieb Drehbücher. Dank Steven Spielberg kam es am Schluss noch zu einem seiner seltenen Auftritte vor der Kamera. Im autobiografischen Drama „Die Fabelmans“ durfte Lynch dem Meisterregisseur John Ford Gestalt verleihen. Als er im August 2024 bekanntgab, als Kettenraucher an einem Lungenemphysem erkrankt zu sein, ahnten seine Fans, dass es diesmal wohl kein Happy End geben würde. Am Donnerstag ist David Lynch, wenige Tage vor seinem 79. Geburtstag, gestorben.
Herr Köchl, ich schätze Sie als Jazz Kritiker, aber warum erwähnen Sie nicht die dubiose Rolle, die Herr Lynch in der demokratiefeindlichen Sekte der Transzendentalen Meditation gespielt hat?
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