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Das steckt hinter der neuen Netflix-Serie „Adolescence“

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Neuer Netflix-Hit „Adolescence“: Zwischen Mobbing und Frauenfeindlichkeit

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    Owen Cooper spielt Jamie Miller in der britischen Netflix-Serie „Adolescence“. Der 13-Jährige wird in der Serie verdächtigt, eine Mitschülerin ermordet zu haben.
    Owen Cooper spielt Jamie Miller in der britischen Netflix-Serie „Adolescence“. Der 13-Jährige wird in der Serie verdächtigt, eine Mitschülerin ermordet zu haben. Foto: picture alliance, dpa, Netflix

    Helle Sterne und bunte Planeten auf blauem Untergrund zieren die Wände des Kinderzimmers, welches früh am Morgen mehrere schwer bewaffnete Polizisten stürmen. Einer richtet sein Gewehr auf den 13-jährigen Jamie Miller, der sich erschrocken im Bett aufrichtet. Ein Ermittler verhaftet ihn wegen Mordverdachtes, woraufhin der sichtlich verängstigte Teenager, der sich vor Schreck einnässt, seine Unschuld beteuert. Hat dieser zierliche, blasse Junge wirklich jemanden getötet?

    Innerhalb kurzer Zeit hat sich die vierteilige Miniserie „Adolescence“, zu Deutsch „Jugend“, zum großen Erfolg entwickelt. In den ersten drei Wochen nach Erscheinen hatte die Produktion fast 100 Millionen Aufrufe. Sie handelt vom 13-jährigen Jamie, der wegen des mutmaßlichen Mordes an seiner Klassenkameradin Katie verhaftet wird. Die Serie durchläuft seine Festnahme, die Suche der Ermittler nach dem Mord-Motiv, ein Gespräch zwischen Jamie und einer psychologischen Gutachterin sowie die Auswirkungen der Tragödie auf seine Familie.

    Jede Folge der Serie „Adolescence“ wurde als One-Shot gedreht

    Was ein Krimi wie jeder andere hätte werden können, sind die Serienmacher wie ein filmisches Kunstwerk angegangen. Für den weltweiten Erfolg gibt es mehrere Gründe. Erstens: Jede der vier Folgen wurde komplett am Stück ohne Schnitte gedreht, ein sogenannter „One-Shot“ und eine wahre Freude für Cineasten. In Echtzeit wird das Publikum in jede Szene mitgenommen. Kein Vorspulen, kein Schlag auf Schlag – und keine Fehler. Das Ergebnis sind rohe, intime und zuweilen beklemmende Szenen, von denen man sich nicht losreißen kann.

    Der organisatorische Aufwand dahinter ist enorm. In einem Interview sagte Regisseur Philip Barantini, dass jeweils drei Wochen pro Folge eingeplant waren. Zwei Wochen Probe, fünf Tage Dreh. Aus zehn Aufnahmen pro Folge wurde die beste ausgewählt. Wie Barantini verriet, gelang bei der zweiten Folge nur der finale zehnte Versuch genau so, wie von ihm vorgesehen: In den letzten Minuten der Folge, die in Jamies Schule spielt, hebt die Kamera mithilfe einer Drohne ab, fliegt über die Kleinstadt und landet am Tatort in den Händen eines Kameramannes, wo Jamies Vater Blumen für die getötete Katie ablegt. An allen anderen Tagen sei es laut dem Regisseur für diesen Coup zu windig gewesen.

    In der Miniserie stand Hauptdarsteller Owen Cooper erstmals vor der Kamera

    Zweitens: Die Hauptrolle spielt Owen Cooper, der mit damals 14 Jahren in „Adolescence“ sein Schauspieldebüt gab. In den sozialen Medien türmen sich Filmausschnitte, unter denen Zuschauerinnen und Zuschauer seine fesselnde Darstellung loben. Mal ist Jamie verletztlich, traurig und ruft beim Publikum Mitleid und Empathie hervor, wenn er verzweifelt mit den Fäusten gegen die Innenseite des Polizeiautos schlägt. „Ich habe nichts getan“, wiederholt er mit brüchiger Stimme so oft und so überzeugend, dass ihm die Zuschauer glauben. In der dritten Folge wird er wiederum mehrmals aggressiv, wirft Möbel um und versucht, sein Gegenüber zu demütigen und ihm Angst zu machen.

    Die Antwort auf die Frage, ob Jamie seine Mitschülerin Katie wirklich getötet hat, lässt nicht lange auf sich warten. Überraschenderweise wird am Ende der ersten Folge im Polizeiverhör das Video einer Überwachungskamera gezeigt. Man sieht Jamie, wie er mit Katie redet, sie auf den Boden stößt und mehrmals mit einem Küchenmesser auf sie einsticht. Wenige Sekunden zuvor schwor er seinem Vater, gespielt von Stephen Graham, dass er es nicht getan hat. Und dann die große Frage: Wieso?

    Drittens: Die schiere Unvorstellbarkeit einer solchen Tat. Kinder, die Kinder töten. Die Serie beruht zwar nicht auf einer wahren Begebenheit, jedoch gab es in den vergangenen Jahren in Großbritannien und auch in Deutschland immer wieder Fälle, die ähnlich abliefen. In „Adolescence“ ist der Täter ein von außen betrachtet gewöhnlicher Junge. Er hat Freunde, ist auf Instagram unterwegs und verbringt zuhause viel Zeit vor seinem Computer. Er wächst in einem stabilen Umfeld auf – ein für die Drehbuchautoren essentieller Punkt. Laut Autor und Schauspieler Stephen Graham sollte die Verantwortung für Jamies Taten nicht auf schwierige familiäre Umstände geschoben werden.

    In der neuen Netflix-Serie geht es auch um die Incel-Subkultur

    Stattdessen geht es in der Miniserie um Männlichkeit, Mobbing sowie Online-Radikalisierung. Als Zuschauer wird man erstmals stutzig, als Jamies Freund Ryan den leitenden Ermittler fragt, ob er in der Schule beliebt war und gut bei Mädchen ankam. Wenige Minuten später fällt der Begriff „Incel“, kurz für „involuntary celibate“, also unfreiwillig sexuell enthaltsam. Incels tummeln sich in Internetforen und sagen von sich selbst, dass sie aus Gründen außerhalb ihrer Kontrolle keine romantischen und sexuellen Beziehungen zu Frauen aufbauen können. Es kommt raus, dass die getötete Katie den 13-jährigen Täter online als Incel bezeichnet, ihn schikaniert und zurückgewiesen hat.

    Tatsächlich hat Jamie anscheinend mehrere Grundsätze der Incel-Ideologie verinnerlicht. Im späteren Verlauf der Serie beschreibt er, dass er hässlich sei und nicht glaubt, dass Frauen sich zu ihm hingezogen fühlen. Er fühle sich wie ein Versager, weil er nie gut in Sport war. Als er in der dritten Folge Katie beleidigt, kommt sein bis dato verborgener Hass auf Frauen zum Vorschein. Am Ende der Serie ist Jamie nicht mehr nur ein verletzlicher, gewöhnlicher Teenager. Er ist ein zutiefst unsicherer und verzweifelter Junge, der aus Wut getötet hat.

    „Adolescence“ vermittelt gerade durch das langsame Storytelling, wie Radikalisierung im Internet unentdeckt vor sich geht – auch bei Menschen, von denen man es nicht erwartet. In Großbritannien hat die Produktion einen politischen Diskurs ausgelöst. Die Serie soll an weiterführenden Schulen womöglich kostenlos zu Aufklärungszwecken gezeigt werden. Wie die Serie eindrücklich gezeigt hat, laufen auf den Handys von Schülerinnen und Schüler Dinge ab, die nur sie selbst kontrollieren können.

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