Das ganze Zauberreich von Oz feiert den Tod der bösen Hexe des Westens. Fahndungsplakate werden heruntergerissen und Hexenpuppen aus Stroh auf dem Scheiterhaufen verbrannt. „Wie entsteht eigentlich Bösigkeit?“, fragt ein kleines Mädchen die gute Hexe des Nordens, welche die freudige Botschaft vom Tod der Antagonistin verkündet hat. Lange bevor Marvel sein Schurken-Arsenal mit sogenannten „Origin-Stories“ erkundete, stellte Gregory Maguire in seinem 1995 erschienen Roman „Wicked“ die Frage nach der Genese des Bösen. Ausgangspunkt hierfür war mit „Der Zauberer von Oz“ (1939) einer der wichtigsten Klassiker der amerikanischen Populärkultur. In einer Prequel-Handlung wurde das Leben der vermeintlich bösen Hexe beleuchtet, die sich von der gemobbten Außenseiterin zur selbstbewussten Zauberin und schließlich zur veritablen Schurkin entwickelte. Als Bühnenmusical wurde „Wicked“ nicht nur am Broadway zum Dauerbrenner. Nun hat Jon M. Chu den Stoff für die große Leinwand adaptiert und schließt das oftmals verkannte Genre fest in die Arme.
Die Verfilmung von „Wicked“ ist ein großes Bekenntnis zum Musical
Jeder in den Kinosaal hinein geschmetterte Song wird hier wie ein rauschendes Fest in Szene gesetzt. Aus jeder Filmminute strömt ein kompromissloses Bekenntnis und eine große Liebe zum Musical, in dem per Definition nicht weniger, sondern nur mehr auch wirklich mehr ist. Das betrifft zunächst einmal das Zeitformat. Pralle 160 Minuten dauert dieser erste „Wicked“-Teil, dem im nächsten Jahr ein zweiter folgen wird. In kraftvollen Farben und reichhaltigen Details entwirft Chu die Fantasy-Kulisse des Films, die sich an dem Klassiker „Der Zauberer von Oz“ lose anlehnt, aber sein eigenes Worldbuilding betreibt.
Und Farben sind auch für die Geschichte von zentraler Bedeutung. Schließlich wird die Hauptfigur Elphaba (Cynthia Erivo) wegen ihres grünen Hautteints zunächst von dem Vater verstoßen und später auf der Zauberschule Glizz verhöhnt. Ihre Erzrivalin und Zimmernachbarin ist die Blondine Galinda (Ariana Grande), deren umfangreiche Garderobe in omnipräsentem Pink erstrahlt. Als schrille Version von Hogwarts wird das Zauberschulleben vorgeführt, in dem die beiden grundverschiedenen Frauen von erbitterten Feindinnen zu unzertrennlichen Freundinnen werden.
Das Zauberland Oz wird zum faschistoiden Staat
Derweil verwandelt sich das Zauberland Oz zunehmend in einen faschistoiden Staat. Die sprechenden Tiere, die hier bislang als Professoren, Lehrer, Ärzte oder Notare arbeiteten, dürfen ihre Berufe nicht mehr ausüben und sollen in Käfige gepfercht werden. Elphaba hat durch ihre eigene Outcast-Erfahrung einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn entwickelt. Wenn sie wütend wird, treten ihre starken Zauberkräfte ungebändigt hervor. Professorin Madame Morrible (Michelle Yeoh) erkennt die Talente der grünhäutigen Schülerin und versucht sie im Einzelunterricht einzuhegen. Sie hat Großes mit der hochbegabten Hexe vor. Schon bald bekommt Elphaba eine Einladung in die Smaragdstadt, wo der Zauberer von Oz (Jeff Goldblum) sie erwartet. Aber der große Magier entpuppt sich nur als machthungriger Diktator, der Elphabas Kräfte für sich nutzen will und ihr dafür ihre „Entgrünung“ verspricht. Ihr lang gehegter Herzenswunsch könnte endlich in Erfüllung gehen, wenn sie sich auf den Deal mit der Macht einlässt.
In einer klassischen Coming-of-Age-Geschichte werden die persönlichen und moralischen Konflikte der jungen Heldin mit kraftvollen Musik- und Tanzszenen plakativ in Szene gesetzt. Dabei wird auch die widersprüchliche Freundschaft der beiden Frauen auf die Probe gestellt. Cynthia Erivo und Ariana Grande erweisen sich in diesem Setting schauspielerisch und gesangstechnisch als ideales Gegensatzpaar. Wunderbar lässt Grande ihre Figur mit barbieeskem Charme zwischen kalt berechnendem It-Girl und liebenswürdiger Kumpanin changieren. Erivo („Harriet“) wiederum transportiert durch das chlorophyllfarbene Make-Up die ganze Verletzlichkeit, Würde, innere Kraft und Zerrissenheit der jungen Hexe.
Cynthia Erivo darf sich Hoffnungen auf einen Oscar machen
Mit ihrem ergreifenden Stimmvolumen und enormer Leinwandpräsenz erweist sich die britische Sängerin und Schauspielerin, die sich nach jeweils einer Tony-, Emmy- und Grammy-Auszeichnung nun auch Hoffnung auf einen Oscar machen darf, als strahlende Musical-Queen. Am Ende steigt sie mit einem furiosen Song auf den Hexenbesen und fährt in voller Pathos-Fahrt hinauf in den Himmel. Nach dem sensationellen Abgang müssen sich die Fans ein ganzes Jahr gedulden. Die Fortsetzung von „Wicked“ ist zu Weihnachten 2025 angekündigt.
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