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Carlo Levis faszinierende Deutschlandreise 1958: Einblick und Analysen

Literatur

Ein Italiener im Land der gefräßigen Frauen

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    Der italienische Mediziner und Schriftsteller Carlo Levi hat sich Deutschland im Jahr 1958 angeschaut. Die wiederaufgebauten Städte, hier ein Blick auf Nürnberg in den 1950er Jahren, kamen ihm seelenlos und anoym vor.
    Der italienische Mediziner und Schriftsteller Carlo Levi hat sich Deutschland im Jahr 1958 angeschaut. Die wiederaufgebauten Städte, hier ein Blick auf Nürnberg in den 1950er Jahren, kamen ihm seelenlos und anoym vor. Foto: picture alliance/dpa

    In der Vorweihnachtszeit im Jahr 1958 reist der italienisch-jüdische Schriftsteller, Maler und Mediziner Carlo Levi nach Deutschland. Erst nach München, dann Augsburg, Ulm, Stuttgart, Schwäbisch Hall, Tübingen, Berlin. Es sind volle Tage mit beruflichen Terminen, ausgiebigen Stadtrundgängen, langen Museumsbesuchen, und ebenso voll sind die Nächte: Theaterbesuche, Abendessen bei Freunden, Nachtlokale. In München versackt er im Donisl. 

    Levi, als Autor berühmt geworden mit seinem sozialkritischen Roman „Christus kam nur bis Eboli“, reist mit Misstrauen, Unbehagen und zugleich mit Neugier und Fragen: „Welches der zahllosen Deutschlands der Kultur und Geschichte wird mir begegnen? Was ist dort passiert und passiert dort gerade nach den Geschehnissen, die wir alle miterlebt haben?“ Zurück in Rom verdichtet er seine scharfsinnigen Reisebeobachtungen zu einem „bescheidenen wahren Roman“, der nun fast siebzig Jahre später in der Neuübersetzung von Martin Hallmannsecker und mit einem Nachwort von Bernd Roeck beim C.H.Beck-Verlag erschienen ist: „Die doppelte Nacht“ - der Titel ein abgeändertes Faust-Zitat. Nach der dunkelsten Nacht die nächste Nacht?

    Carlo Levi beobachtet mit den Augen des Malers

    Welches Deutschland also begegnet ihm im Jahr 1958? Was sind das für Menschen? 

    In München wird ihm ein junger Mann zuraunen: „Il n´y a pas de monstres“. 

    Levi, der Menschen wie Städte und Landschaften mit den Augen des Malers zeichnet, fein, fast überreich, zugleich mit scharfem, sezierendem Blick, beobachtet Gesichter der Passanten mit harmlosen Zügen, ordentlich und schwerfällig. Und wundert sich als nach einem langen Besuch im Museum nachmittags ein für Wurstspezialitäten berühmtes Lokal betritt und da Frauen mittleren Alters erlebt, die ohne Zurückhaltung Bier trinken und Würste verschlingen: „Sie essen nicht: Sie fressen, verleiben ein, verschlingen, schlucken, kauen, zermalmen, saugen auf, wie riesige Seidenraupen, völlig versunken in die reine Gefräßigkeit“. Hat er diese Gesichter nicht eben schon gesehen?

    Carlo Levi wird nicht schlau aus den Deutschen

    Im Museum, auf den Bildern der „ersten deutschen Maler“, die ihren Landsleuten kein Schönheitsideal vorsetzten wie Raffael mit seiner Madonna den Italienerinnen, sondern ihnen die nackte Wirklichkeit lieferten? Womöglich, sinniert er, „fühlen sich diese maßlosen Frauen wunderschön“. Abends in den Bierkellern trifft er auf ganz andere Menschen, verbittert, verroht, verzweifelt. „Eine beinahe unvorstellbare Welt der Verleugnung und der verzweifelten Selbstentfremdung.“ Er selbst wird nicht schlau aus diesen Deutschen, die arbeiten, verdrängen, schweigen, auch nicht aus seinen Freunden wie jenem Bildhauer Rainer P.. Der fährt ihn mit dem Auto durch Bayern bis nach Stuttgart - auch in Dachau halten sie an, treffen in den KZ-Baracken auf schlesische Vertriebene - eine der eindrücklichsten Szenen des Buchs. Levi kann nicht verstehen, wie sein Freund, der schon vor Hitlers Machtergreifung Deutschland verlassen konnte, es sich nun in seinem unkenntlich gewordenen Land bequem machen konnte: „In der Welt des Praktischen.“ 

    Was sind das für Städte? Seelenlos, anonym, die vor Abscheu vor ihrem Aussehen eigentlich einstürzen müssten, urteilt der Architekturinteressierte. „Nicht nur Stuttgart, sondern alles, oder so gut wie alle, alten kleinen Städte Deutschlands sind in Bezug auf das, was sie einmal waren, tot: zertrümmert von den Bomben, neu und unkenntlich wiederaufgebaut oder geschickt gefälscht.“ In Augsburg aber bemerkt er bei der Fahrt durch alte Straßen und inmitten der zarten Farben der Fassaden „die beinahe physische Präsenz von Gefühlsschichten, die sich im Laufe der Zeit nicht grundlegend verändert haben“, in Schwäbisch-Hall trifft er auf mittelalterliche Heimeligkeit, über Tübingen legt sich abends ein Zauber vom blau-goldenen Himmel. Schließlich Berlin, die geteilte Stadt, in der Levi am Kurfürstendamm wohnt, mehrfach am Tag von West nach Ost und wieder zurückeilt, ins Berliner Ensemble, ins Pergamon-Museum, zur Nofretete nach Dahlem. Er vergleicht die zwei Teile Berlins mit zwei Schwestern, fundamental entfremdet und doch gebunden: „Was die eine tut, tut die andere nicht.“ 

    Welches Deutschland also begegnet ihm, dem in Italien verfolgten Antifaschisten? Ein Land unter Schock, im Schwebezustand, im Schlaf, schreibt Levi in seinem Vorwort, verstümmelt, sprachlos, müde. „Deutschland schläft, bewacht von seiner instinktgetriebenen Selbstzensur, von seiner selbst auferlegten Ausgangssperre, die den Anschein der Wiedergeburt nur vortäuscht.“ Wann diese zweite Nacht enden wird, er versagt sich eine abschließende Bewertung, denn: „Was sich an Millionen heimischen Herden zusammenbraut, kann heute noch niemand wissen.“ 

    Carlo Levi: Die doppelte Nacht. Eine Deutschlandreise im Jahr 1958. C.H. Beck Verlag, 176 Seiten, 20 Euro

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