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Buchrezension: Die verleugneten Opfer: Der Umgang der Nazis mit sogenannten Asozialen

Buchrezension

Die verleugneten Opfer: Der Umgang der Nazis mit sogenannten Asozialen

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    Nach dem Ersten Weltkrieg, herrschten Inflation und Wirtschaftskrise, Wohnungsnot und große Armut. In langen Schlangen warteten die Menschen auf billige Lebensmittel, wie hier vor einer Freibank in Thüringen
    Nach dem Ersten Weltkrieg, herrschten Inflation und Wirtschaftskrise, Wohnungsnot und große Armut. In langen Schlangen warteten die Menschen auf billige Lebensmittel, wie hier vor einer Freibank in Thüringen Foto: picture alliance/Fotoarchiv für Zeitgeschichte/Archiv

    „Die Nazis nannten sie ‚Asoziale‘ und ‚Berufsverbrecher‘ – so betitelt der Frankfurter Sozialwissenschaftler und Herausgeber Frank Nonnenmacher sein Buch mit „Verfolgungsgeschichten im Nationalsozialismus und in der Bundesrepublik“. Es geht darin um Menschen, die in den 1920er und 1930er „deviant und delinquent“ wurden, wie es im soziologischen Sprachgebrauch heißt. Sie wurden nicht nur vor Gericht gestellt und bestraft, die Nazis wollten sie vielmehr vernichten. Tausende kamen in den Lagern um und wurden ermordet.

    Die Stigmatisierung „Asozialer“ ging auch in der Bundesrepublik weiter

    Und es geht darum, dass diese Menschen auch nach 1945 ausgegrenzt wurden aus dem Bewusstsein der Gesellschaft, der Politik und ihrer Familien, dass die Verfolgungsgeschichte, die Stigmatisierung auch in der Bundesrepublik weiterging. Erst im Februar 2020, vor vier Jahren, also 75 Jahre nach dem Ende der Nazi-Diktatur, beschloss der Bundestag, auch diese Menschen, die in den Lagern einen grünen oder schwarzen Winkel auf der Kleidung als Markierung tragen mussten, als Opfer anzuerkennen. Die Initiative dazu kam von Nachfahren, die den Mut hatten, ihre verfolgten Vorfahren aus dem Dunkel des Vergessens zu holen und das Familien-Tabu zu brechen, dass man über diese „Asozialen“ nicht reden dürfe. Ausführlich erzählen nun die Angehörigen, wie es dem Urgroßvater, dem Onkel, der Großtante ergangen ist. Es sind erschütternde und empörende Geschichten.

    Wir erinnern uns: Damals, nach dem Ersten Weltkrieg, herrschte Inflation und Wirtschaftskrise, Wohnungsnot und eine unvorstellbare Armut. Wer eh schon nicht mit dem goldenen Löffel im Mund geboren war, musste nicht selten mit illegalen Mitteln versuchen, seinen Lebensunterhalt zu sichern. Johanna Römmler aus Freiberg in Sachsen zum Beispiel, 1905 geboren, Magd und Dienstmädchen, entwendet bei ihrem Arbeitgeber immer mal wieder Nahrungsmittel. Sie wird angezeigt, kann die Geldstrafe nicht bezahlen, versucht als Prostituierte an Geld zu gelangen, kommt 1940 für drei Jahre ins Zuchthaus. Danach deportiert die Kripo sie direkt nach Auschwitz, markiert sie mit dem grünen Winkel („Berufsverbrecher“), am 13. Januar 1944 wird sie ermordet. Oder Ernst Nonnenmacher, der Onkel des Herausgebers: Kind einer verarmten Arbeiterfamilie. Er verkauft eine gestohlene Lederjacke, wird wegen Diebstahl und Hehlerei verurteilt, dazu kommt noch die damals verbotene Bettelei, nach Haftstrafen wird er ohne weiteres Verfahren ins KZ Flossenbürg gebracht und ebenfalls als „Berufsverbrecher“ gekennzeichnet. Nonnenmacher überlebte und versuchte nach 1945 vergeblich, als Verfolgter des NS-Regimes anerkannt zu werden.

    20 Lebensgeschichten erzählen von Menschen, die die Nationalsozialisten als „geborene Verbrecher“ abstempelten

     In den 20 Lebensgeschichten, die der Band versammelt, verschweigen die Autoren nicht, dass ihre Vorfahren sich gesetzeswidrig verhalten haben. Deutlich wird aber auch, dass es sich zumeist um Armuts-Kriminalität handelte, manchmal auch um ein unangepasstes oder ein irgendwie aus dem Ruder gelaufenes Leben (wie beim 1894 geborenen Wilhelm Schledorn, der nach dem Trauma des Ersten Weltkriegs nicht wieder Fuß fassen konnte). Die Delinquenten hätten nach Verbüßung ihrer Strafen in einem Rechtsstaat wieder die Chance auf ein anständiges Leben gehabt. Die Nationalsozialisten jedoch stempelten sie als „geborene Verbrecher“ oder „Gemeinschaftsfremde“ ab und trachteten, sie zu vernichten. Die Instrumente dafür waren Vorbeugehaft und Sicherungsverwahrung, vor allem Letztere führte direkt zur „Vernichtung durch Arbeit“ in einem Lager. So war es bei der jungen Wanderarbeiterin Erna Lieske, die nach kleinen Diebstählen im Frauenzuchthaus Aichach inhaftiert war und von dort nach Auschwitz kam. 

    Dass nun die Lebensgeschichten dieser verleugneten Verfolgungsopfer erzählt werden können, dass sie öffentlich anerkannt werden, ist ein großer Schritt, der Frank Nonnenmachers langjährigem Engagement zu danken ist. Aber im Sinne einer Rehabilitation gilt es noch viel zu tun. So müssten die Häftlings-Hierarchien in den Lagern besser erforscht, die Vorurteile in der Gesellschaft untersucht werden. Noch heute sei die Meinung verbreitet, so schreibt Nonnenmacher, dass jüdische oder politische Verfolgte die „besseren Opfer“ seien, dass die Häftlinge mit grünem oder schwarzem Winkel „zu Recht“ verfolgt worden seien. Emil Baum aus Landstuhl wurde nach mehreren Diebstählen ermordet im KZ Mauthausen. Sein Urenkel musste erleben, dass die Stadt Landstuhl sich weigerte, einen Stolperstein für seinen Urgroßvater verlegen zu lassen. Und auch die Tätersprache der Nazis wird weiterverwendet: Für die schon erwähnte Erna Lieske wurde zwar ein Stolperstein verlegt, aber darauf stand unter ihrem Namen der Nazi-Begriff “Gewohnheitsverbrecherin“. So betont Bundestagspräsidentin Bärbel Bas zu Recht in ihrem Geleitwort für den Sammelband, dass weiterhin viel Aufklärungsarbeit nötig sein wird. Gerade in unserer Gegenwart, wo die Hemmschwelle für Hass und Hetze sinkt, müsse das Bewusstsein für die Mechanismen gesellschaftlicher Ausgrenzung geschärft werden.

    Frank Nonnenmacher (Hg.): Die Nazis nannten sie „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“. Campus-Verlag, 372 Seiten, 29 Euro; auch im Augsburger Gedenkbuch (www.gedenkbuch-augsburg.de) sind Biografien von verleugneten Opfern enthalten, etwa von Maria Berta Groß, Liberat Hotz, Seraphina Stegmaier, Maria Reinhardt.

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