In den Buchhandlungen wird man auch den jüngsten Roman von Davide Longo wieder in der Krimi-Abteilung eingereiht finden. Das ist nicht falsch, und doch geht die Zuordnung daneben. Schon gar nicht handelt es sich bei „Schlichte Wut“ aber um einen dieser Italo-Wohlfühlkrimis fürs transalpine Sehnsuchtspublikum.
Nein, der Piemontese Longo, 1971 geboren, schreibt in einer anderen, entschieden literarischen Liga, und man merkt seinen Romanen an, dass er sich bestens auskennt unter den Menschen, von denen er erzählt. Menschen aus bäuerlichen Traditionen und aus Industriearbeiter-Milieus, wie sie einem begegnen in den Agrarlandschaften der Po-Ebene, in abgelegenen Tälern der Westalpen oder in Turin, der die Region beherrschenden Metropole, die auch schon bessere Zeiten gesehen hat.
„Stille Wut“ ist der dritte Roman um die Kommissare Bramard und Arcadipane, wobei der Erst-genannte dieses Mal Randfigur bleibt. Doch Arcadipane hat genug von seinem früheren Chef gelernt, das zeigt der Fall einer Immigrantin, die in der Turiner U-Bahn scheinbar ohne Grund angegriffen und tödlich verletzt wurde. Die Überwachungskameras zeigen einen maskierten Jungen, der auch schnell aufgegriffen wird. Das Täterprofil scheint zu passen, Vorstrafe, prekäre Herkunft, und doch wollen ein paar Steinchen nicht so recht ins Mosaik passen. Findet zumindest Arcadipane. Und der Commissario wird recht behalten, denn bald öffnen sich Türen zu einem perfiden Spiel auf der dunklen Seite des Internets, eine Welt, für die der Mittfünfziger Arcadipane keine Antennen hat, weshalb er sich erst einmal nach externer Hilfe umsehen muss.
Die Gesellschaft wird in "Schlichte Wut" gleich mitanalysiert
Wie schon in den vorausgehenden Romanen „Der Fall Bramard“ und „Die jungen Bestien“ ist der Kriminalfall bei Longo nicht einfach nur ein Verstoß gegen Recht und Gesetz. Mehr noch dient er dem Autor zur Diagnose besorgniserregender Veränderungen in der Gesellschaft – in „Schlichte Wut“ vor allem des jüngeren Teils dieser Gesellschaft.
Und auch wenn Longo, der an einem Turiner Literaturinstitut kreatives Schreiben lehrt, seine Handlungsstränge präzise entlangführt an den Zuständen des reichen italienischen Nordens, lassen sich seine Analysen doch ohne größere Abstriche übertragen auf Situationen in anderen westlichen Wohlstandsnationen. Die scharf ausgeleuchtete Beschreibung einer Familie der Turiner upper middle class, wohin die polizeilichen Ermittlungen zunächst weisen, ist ein Präzisionsstück spätkapitalistischer Gesellschaftskritik, auch, weil ihr Verfasser nicht einmal viele Worte dafür benötigt.
Wie überhaupt Longo an seinem Romanpersonal gerne besondere Konturen herausarbeitet, den Commissario Arcadipane nicht ausgenommen. Der Mann ist als Privatmensch – dessen Wege Longo eifrig nachverfolgt – so etwas von durchschnittlich, dass er jenseits seiner Polizeiarbeit unfassbar wenig mitbekommt vom steten Wandel der Verhältnisse. Das gilt für die Lebensentwürfe seiner inzwischen erwachsenen Kinder ebenso wie für die Bedürfnisse seiner Ehefrau, die sich definitiv von ihm gelöst hat. Und doch zeichnet Longo diesen taumelnden Gestrigen nicht als verkopften Trottel, hält ihn vielmehr in einer Schwebe, die ihm die Qualität einer Identifikationsfigur verleiht.
Davide Longo hat einen vierten Fall mit Arcadipane und Bramard geschaffen
Bei allem Realismus pflegt Longo auch in „Schlichte Wut“ wieder sein Faible für unerwartet skurrile Konstellationen, weiß dabei freilich Maß zu halten und verschafft seinem Roman nicht zuletzt dadurch eine Reibungsfläche, die ihn stärker im Lesegedächtnis verankert als ein auf die üblichen Spannungstricks setzender Pageturner.
Auch wenn serielle Krimiproduktionen mit hoher Schlagzahl bei Davide Longo nicht zur Debatte stehen dürften: Der Schriftsteller hat in seiner Muttersprache bereits einen vierten Fall veröffentlicht, die Kriminalisten aus Turin werden also weiter ermitteln und zumindest im Falle Arcadipanes nicht nur mit dem Tatgeschehen wieder die liebe Not haben.
Davide Longo: Schlichte Wut. Aus dem Italienischen von Barbara Kleiner. Rowohlt, 320 Seiten, 23 Euro.
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