Es ist im doppelten Sinn interessant und zutreffend, was Harald Welzer am Ende seines aktuellen Befunds zu Politik und Gesellschaft feststellt, nämlich: „Es ist fast unmöglich, heute noch ein zeitdiagnostisches Buch abzuschließen. Zwischen Fertigstellung des Manuskripts und Korrektur der ersten Druckfahne sind schon wieder so viele Dinge geschehen, dass man ergänzen und revidieren muss.“
Wer würde dem widersprechen wollen? Wohl kaum einer, selbst wenn – beziehungsweise gerade dann – er nicht mit dem Verfassen von Büchern beschäftigt ist, sondern beispielsweise bei BMW in Niederbayern am Band steht. Und da tut sich eigentlich schon die erste Kluft auf in einer Gesellschaft, die ja als zunehmend zerrüttet oder gar gespalten diagnostiziert wird: nämlich die zwischen professionellen Beobachtern ebendieser Gesellschaft, der Zeitläufte und Politik – also etwa Journalisten, Soziologen, Buchautoren usw. – und denen, die noch mit etwas anderem beschäftigt sind, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten (zumal auch das ja zunehmend schwerer).
Kurz gesagt: Der Sozialwissenschaftler Harald Welzer argumentiert in seinem neuen Buch „Zeitenende“ also gewissermaßen aus einer Position heraus, die er selbst wiederum auf 300 Seiten schier permanent zur Anklage bringt – die der Eliten nämlich. Denn diese, vor allem in Politik und Medien, seien es schließlich, die zu dem zunehmenden Verdruss, zum Vertrauensverlust in der Bevölkerung und den gegenwärtigen Umständen beigetragen hätten. Okay, das war jetzt sehr verkürzt wiedergegeben. Dabei spielt jedenfalls keine Rolle, dass der Autor nicht immer mal wieder bei der Beschreibung gesellschaftlicher Zu- und Missstände vor allem auf den ersten 100 Seiten ins Schwarze treffen würde, „einen Punkt“ hätte, wie es so unschön in Lanz-Deutsch heißt. Aber genau das ist vielleicht der Punkt: Er bewirtschaftet in einer Art teilnehmenden Talkshow-Beobachtung jenen Unmut, den er gleichzeitig lindern zu wollen vorgibt. Das rutscht ihm dann auch nicht mehr nur so über die Lippen, sondern findet sich auch gedruckt, im aktuellen Buch, wenn er etwa dem politischen Journalismus hierzulande pauschal eine „Mutation“ hin zum „Agitationskader“ unterstellt.
Beifall von geneigter Seite ist ihm so definitiv sicher, wobei man nicht ganz sicher ist, ob Welzer sich dem wirklich gewahr ist – oder ob sich das in diesem Fall überhaupt vermeiden lässt. Schließlich verlässt der Wissenschaftler schon seit Längerem die reine Beobachterposition (so es sie denn gibt, was es jedoch gibt: das Bemühen um Distanz) und argumentiert zunehmend normativ. Das muss man jetzt nicht gleich mit Intellektuellen-Stammtisch verwechseln, aber deutlich wird dieses wertegeleitete Abarbeiten unter anderem auch an der Stelle im Buch, in der es um Annalena Baerbocks Auftritt 2022 in Prag geht. Die deutsche Außenministerin sicherte der Ukraine dort anhaltende Unterstützung zu, „egal, was meine deutschen Wähler denken“. Für Welzer empörend und skandalös, und skandalisiert einerseits und diskutiert andererseits wurde die Aussage damals ja auch. Kurios hingegen der Zusatz des Autors „wenn ich mal etwas Persönliches sagen darf“ – das ganze Buch ist ja dergestalt ein persönliches. Aber wie erwähnt, das lässt sich wohl nicht umgehen, wenn man in den Modus eines (sich selbst) parteiergreifenden „J’accuse!“ verfällt, was ihm dann – um nochmals beim Beispiel zu bleiben – glatt auch den Unterschied zwischen schlichten Umfragen und der Funktionsweise repräsentativer Demokratie entfallen lässt.
Erst einmal sich darauf verständigen, über was überhaupt geredet wird
Ganz anders nähert sich dieser Demokratie jedenfalls Armin Nassehi, was alleine schon seinem systemtheoretischen Hintergrund geschuldet sein mag. Der Münchner Soziologe, der durchaus ebenfalls in aktuelle Debatten eingreift, wenn auch seltener in Talkshows, blickt mit seinem Buch „Gesellschaftliche Grundbegriffe“ sozusagen ins Getriebe des Diskurses im Bemühen, nicht selbst Teil der Nockenwelle, des Motors zu sein. In seinem „Glossar der öffentlichen Rede“ beleuchtet er stattdessen gewissermaßen von oben derzeit wieder Konjunktur erfahrende, äußerst aufgeladene Begrifflichkeiten wie etwa Gesellschaft, Identität, Populismus, Demokratie usw. und belässt es dabei nicht etwa bei einer soziologisch-historischen Tiefenbohrung – sondern zeigt auch die kommunikative Funktion jener Begriffe auf, die da gegenwärtig als diskursive Marker in Stellung gebracht werden.
Wo Welzer also sinngemäß mehr partizipative Demokratie einfordert, mehr auf die Stimme des „einfachen Volkes“ zu hören, und dabei auch nicht davor zurückschreckt, dafür Uwe Seeler als Prototyp einer untergegangenen, präkonsumistischen und noch nicht überakademisierten Zeit in Beschlag zu nehmen, versucht es Armin Nassehi so: „Diese Kritik ist nicht von der Hand zu weisen, verweist aber auf exakt jene Spannung, die dem Demokratiebegriff inhärent ist.“ Eine Grundspannung, die derzeit wahrlich zu spüren, die aber nicht mit schlichten Parolen, Politiker- oder Eliten-Bashing zu beheben ist, im Gegenteil. Vielleicht also besser: erst einmal sich darauf verständigen, über was wie überhaupt geredet wird.