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Buchkritik: "Eine Leidenschaft" von Annie Ernaux: Wenn die Sehnsucht das Dasein bestimmt

Buchkritik

"Eine Leidenschaft" von Annie Ernaux: Wenn die Sehnsucht das Dasein bestimmt

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    Der Debütroman "Die leeren Schränke" der französischen Schriftstellerin Annie Ernaux erscheint in Deutschland.
    Der Debütroman "Die leeren Schränke" der französischen Schriftstellerin Annie Ernaux erscheint in Deutschland. Foto: Anders Wiklund/TT News Agency/AP, dpa

    Klamotten liegen im Zimmer verstreut, zwei Weingläser auf dem Tisch, zerknitterte Laken. Zeugen der letzten Nacht und Sinnbild für eine Affäre, von der die französische Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux in „Die Leidenschaft“ erzählt. Die Geschichte mag abgedroschen klingen: Eine Frau, geschieden, zwei Kinder, berufstätig, ist in eine Liebelei mit einem verheirateten Mann verstrickt. Er will Sex, sie mehr. Ein Jahr dauert die

    Doch Ernaux beschreibt nicht das Offensichtlich oder Banale, nicht den Mann, den Sex oder das romantische Kennenlernen, sondern den Zustand des Wartens und Begehrens – mit so schönen Sätzen wie „ich war nur noch Zeit, die durch mich hindurchfloss“. Bei

    Annie Ernaux hat einen eigenwilligen Stil, ihre Sprache ist schnörkellos

    Die Französin hat schon vieles aus ihrem Leben literarisch verarbeitet – den Tod ihrer Eltern, eine Abtreibung, ihre soziale Herkunft, die Affäre mit einem jüngeren Mann. Auch „Die Leidenschaft“ ist autofiktional. Als das Buch 1991 in Frankreich erschien, galt es vielen als anstößig und wurde als erotische Frauenliteratur abgestempelt. Die deutsche Erstübersetzung von 2004 landete ebenfalls in dieser Ecke und blieb mehr oder weniger unbeachtet. Jetzt, knapp 30 Jahre nach Erstveröffentlichung, hat Sonja Finck das Buch neu und exzellent übersetzt. 

    Kein Leichtes, denn Ernaux’ Stil ist eigenwillig, ihre Sprache schnörkellos. Sie analysiert und komprimiert, ohne zu verkürzen. Jeder Satz wirkt wohlüberlegt und doch nicht konstruiert. Auf nur 80 Seiten liefert sie die Essenz ihrer Erfahrung und wie immer gelingt es der „Ethnologin ihrer selbst“, wie sich die Autorin bezeichnet, über sich hinaus zu schreiben. Ohne jede Form von Rührseligkeit erzählt sie von ihrer Affäre mit einem Mann, der aus Ost-Europa kommt und ein wenig an Alain Delon erinnert – und sie macht das so präzise und nüchtern, dass das individuell Erlebte zum allgemein Erlebbaren wird. 

    Ernaux beschreibt nicht nur eine Affäre, sondern den Zustand dahinter

    Die Zweifel und Ungewissheit darüber, ob der Mann ein ebenso tiefes Verlangen nach ihr verspürt wie sie nach ihm, fasst Ernaux kühl zusammen: „Die einzige unbestreitbare Wahrheit konnte ich an seinem Penis ablesen.“ Genauso sachlich kommt dann auch das Ende der intensiven Affäre daher. „Er hat Frankreich vor sechs Monaten verlassen und ist in sein Land zurückgekehrt. Wahrscheinlich werde ich ihn nie wieder sehen.“ 

    Ernaux beschreibt nicht nur eine Affäre, sondern den Zustand dahinter. Die Protagonistin zelebriert die Lust an der Verschwendung, genießt es, sich körperlich und mental vollkommen hinzugeben, über das Begehren zu fantasieren und darüber die Ärgernisse des Alltags zu vergessen. „Ich will meine Leidenschaft nicht erklären – das liefe darauf hinaus, sie als Irrtum oder Störung zu betrachten, für die man sich rechtfertigen muss –, sondern sie einfach nur darstellen“, schreibt Ernaux.

    Leidenschaft nicht als obskure Obsession, sondern wertvolle Erfahrung

    Die Liebelei versetzt sie in einen andauernden Tagtraum. Raum und Zeit spielen keine Rolle mehr, selbst der Mann erscheint ihr irgendwann austauschbar, nur einer von vielen. Was die Affäre für ihn bedeutet? „Sicher nichts anderes als das, Sex“, analysiert Ernaux nüchtern. Sie erzählt die Geschichte nicht chronologisch oder an Fakten entlang, sondern aus einer individuell erlebten Zeitlosigkeit heraus. Gegenwärtige Ereignisse wie der Berliner Mauerfall oder der Ausbruch des zweiten Golfkriegs werden nur beiläufig erwähnt. 

    Die Protagonistin empfindet ihre Leidenschaft nicht als obskure Obsession, sondern als wertvolle Erfahrung oder wie Ernaux schreibt: „Ich habe herausgefunden, wozu man fähig ist – zu allem nämlich. Zu geheimen Wünschen, die sublim oder tödlich sein können, zum Verlust der eigenen Würde, zu Glaubenssätzen und Verhaltensweisen, die ich bei anderen für irrational hielt, bis ich selbst darauf zurückgegriffen habe.“

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