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Verlustbewältigung in der Moderne: Andreas Reckwitz' Analyse

Buchkritik

Die verlorene Kunst des Scheiterns: Andreas Reckwitz‘ neues Buch "Verlust"

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    Der Schriftsteller und Kultursoziologe Andreas Reckwitz befasst sich in seinem neusten Werk mit dem Phänomen des Verlusts.
    Der Schriftsteller und Kultursoziologe Andreas Reckwitz befasst sich in seinem neusten Werk mit dem Phänomen des Verlusts. Foto: Sven Hoppe, dpa

    „The art of losing isn’t hard to master“ – „Die Kunst des Scheiterns ist nicht schwer“, so heißt es im Gedicht „One Art“ der Lyrikerin Elizabeth Bishop. Das stimmt zunächst skeptisch. Niederlagen oder Rückschläge zu meistern, scheint hoch anspruchsvoll zu sein. Von Banalitäten wie einem verlegten Schlüsselbund über den Abstieg der Lieblings-Fußballmannschaft bis zum Tod einer geliebten Person, mit Verlusten umzugehen ist eine Herausforderung. In seinem neuen Buch „Verlust“ nähert sich der Soziologie Andreas Reckwitz dem Problem, zielt aber anders als die Poetin darauf ab, wie moderne Gesellschaften im Ganzen mit Rückschlägen umgehen lernen.

    Andreas Reckwitz schreibt über ein „Grundproblem der Moderne“

    Reckwitz geht es also nicht um ein irgendwie randständiges Nischen-Phänomen, das nur die Experten und „Nerds“ in den soziologischen Instituten umtreibt, sondern um „ein Grundproblem der Moderne“, wie schon der Untertitel des Buchs verrät. „Verlust. Ein Grundproblem der Moderne“, das klingt ein wenig nach Selbsthilfe für Bildungsbürger, geradezu abgeschmackt zeitgeistig. Doch hier wird weder auf Befindlichkeiten Rücksicht genommen, noch publizistischen Trends hinterhergerannt. Reckwitz beansprucht vielmehr, einen „blinden Fleck“ der soziologischen Forschung auszuleuchten und mit seinem Buch den ersten Beitrag zu einer systematischen „Soziologie des Verlusts“ zu liefern. Dabei geht er auf Distanz sowohl zur modernen Fortschrittserzählung als auch zum orthodoxen Kulturpessimismus.

    Wie soll das nun zusammengehen, Moderne und Verlust? Das scheint ein Widerspruch in sich, ist der wesentliche Imperativ der Moderne doch die Neugier im Wortsinn, die Sehnsucht nach dem Neuen und nicht die Trauer um das Vergangene. Ja und genau hierin liegt die Crux von Reckwitz‘ Analyse. Die zentrale These lautet, „dass die Moderne ein fundamentales Problem mit Verlusterfahrungen haben muss, weil diese dem für die Moderne konstitutiven Fortschrittsglauben widersprechen.“ Reckwitz nennt das auch die „moderne Verlustparadoxie“.

    Reckwitz erforscht das Verhältnis zwischen Fortschritt und Verlust

    Im Umgang mit diesem Spannungsverhältnis gebe es zwei Strategien. Die eine ist das Unsichtbarmachen von Verlusten durch entweder deren Umdeutung, Stichwort „schöpferische Zerstörung“ à la Schumpeter, oder Abwertung, siehe „Sozialschmarotzer“ als Synonym für Langzeitarbeitslose. Wo das nicht mehr ausreicht, um die realen Rückschläge in die moderne Erzählmaschine zu integrieren, müsse dann doch speziell moderne Verlustbewältigung geleistet werden. Das Versicherungswesen oder die Psychotherapie sind hier einschlägig, ersteres macht Risiken beherrschbar, zweitere das Selbst.

    Doch bei dieser Analyse der sozialen Mechanik bleibt Reckwitz nicht stehen. Er verfolgt vielmehr das sich durch die Phasen der Moderne wandelnde Verhältnis zwischen Fortschritt und Verlust. Der aktuellen Spätmoderne diagnostiziert er sodann eine „Verlusteskalation“ als Folge der unter anderem durch die Klimakatastrophe und neue Systemkonflikte unglaubwürdig gewordenen Fortschrittserzählung. Denn der Fortschrittsimperativ bleibe trotz heruntergelassener ideologischer Hose wirkmächtig in Politik, Wirtschaft oder in nun erst recht unrealistisch gewordenen Selbstverwirklichungsansprüchen. Enttäuschung sei so vorprogrammiert und identitätsstiftende Verlusterfahrungen würden zum Ersatzmotor der stotternden Spätmoderne. Reckwitz zählt in diesem Sinne den grassierenden Populismus als Verlustbewältigungsstrategie. Spätestens hier wird die Brisanz von Reckwitz‘ Thesen klar.

    Eine überzeugende Systematik des Verlusts in Buchform

    So erklärt sich auch, wie ein über 400 Seiten starker wissenschaftlicher Wälzer auf den Bestsellerlisten landen kann. Die soziologische Detailanalyse ist für Laien sicherlich mühsame Lektüre. Die Anstrengung aber lohnt sich, denn Reckwitz löst ein, was er verspricht: Eine überzeugende Systematik des Verlusts als Grundproblem der Moderne. „Verlust“ ist ein aktuell zurecht viel diskutierter Beitrag zum Verständnis unserer so komplex und krisenhaft scheinenden Zeit. Und auch wenn es kein Selbsthilfebuch ist, lernt sich der moderne Mensch darin doch ein wenig selbst verstehen.

    Info: Andreas Reckwitz, geb. 1970, ist Professor für Allgemeine Soziologie und Kultursoziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. „Verlust. Ein Grundproblem der Moderne.“ Suhrkamp Verlag, 463 Seiten, 32 Euro.

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