Die Straßennamen in neuen Siedlungen sind meist belanglos und austauschbar: große Dichter, Vögel, irgendetwas mit Bäumen. Nichts Sperriges oder Schweres soll den rosig entworfenen Zukunftsträumen im Weg stehen. In Thomas von Steinaeckers Roman „Die Privilegierten“ wächst der Ich-Erzähler Bastian in einem solchen Neubaugebiet in Oberviechtach auf – ein Bungalow am immerhin Anspruch verkündenden Albert-Einstein-Rondell. Später, als junger Familienvater, wird er am Münchner Speckrand in die Strawberry-Fields-Siedlung ziehen – Beerenstraßenträume forever! Dass aber beim Bauen der Zukunft irgendwann ein schwerwiegender Fehler gemacht, Risse im Gemäuer nicht erkannt wurden, ist von den ersten Seiten an offensichtlich. Der Roman beginnt in einer Hütte in der Einsamkeit eines Waldes in Norwegen im Jahr 2043.
„Etwas ist geschehen. Ich muss nachdenken … Vor drei Tagen ist die Katze hier aufgetaucht.“ Wer sich da an Marlen Haushofers „Die Wand“ erinnert fühlt, ist auf der falschen Spur, wie sich zeigen wird. Bastian hat sich selbst abgeschottet von der Welt. Die Ankunft des Tieres stößt einen Spalt in der von ihm errichteten Wand auf: „Die einzige Möglichkeit, jetzt nicht verrückt zu werden, ist meine Vergangenheit zu sortieren. Warum ich hier bin. Wie ich lernte, die Menschen zu hassen.“ Es folgt ein Lebensbericht...
Als die Zukunft noch ein Versprechen war
Auf den folgenden etwa 600 Seiten porträtiert der Augsburger Schriftsteller und Filmemacher eine Generation, der er selbst angehört: geboren Mitte der Siebziger, Anfang der Achtziger, die Zukunft ein Versprechen. Sein Bastian, benannt nach dem Helden in Michael Endes „Die unendliche Geschichte“, aber hat als Kind eine erste große Erschütterung bereits erlebt: Seine Eltern verunglücken tödlich, er wächst bei seinem Großvater, einem Literaturprofessor, mit Wagner-Mozart-Bach-Klängen und Hochkultur auf. Unten, in seinem Kinderzimmer, aber schaut er heimlich fern: Quizshows, Frank Elstner, Star Trek … Im Gymnasium freundet er sich mit den - wie er - etwas "anderen" an: Ilie, die Eltern Rumänen, und Madita, genannt „die Öko“. Gemeinsam gründen sie den „Klub der Katze“. Drei, das fühlt sich richtig an, reflektiert der gerade erst Zehnjährige: „In allen Filmen, Hörspielen und Büchern, die wir mochten, waren es sehr oft drei Kinder, die Abenteuer erleben …“
Mal im Zeitraffer, mal in Zeitlupe, schreitet Steinaecker in Bastians Geschichte und der seiner Freunde voran. Studium der Literatur, Liebe, Hochzeit, Kind, Karriere als Journalist, später entwickelt Bastian für einen Fernsehsender ein Virtual-Reality-Game mit Frank Elstner, der nun ein plaudernder Avatar ist. Den Privilegierten geht es gut - gut will man ja auch sein, lässt das Fliegen sein, spendet per Dauerauftrag! Und – das ist das Unheimliche und unheimlich gut Gemachte in diesem atmosphärisch so dichten und komplexen, manchmal auch symbolisch überfrachteten Roman – nahezu beiläufig ändert sich die Stimmung: Wechselt das Licht, wird der Coming-of-age-Roman zum Bildungsroman, zum Familienroman, zum zeitgenössischen Gesellschaftsroman und dann zur Dystopie – geht es also abwärts in eine von Klimakrise und sozialen Konflikten geprägte nahe Zukunft.
Die Neubausiedlung wird zur Gated-Community
Rund um die Strawberry-Fields-Siedlung wird ein Zwei-Meter-Zaun errichtet, um sich vor den Bewohnern der sogenannten Holzhäuser zu schützen, wo vor allem Geflüchtete leben, das Niemandsland dazwischen wird zum Solarfeld. Und Bastians feines Lebenskonstrukt beginnt zu wackeln. Samy, sein hinreißender und begabter Sohn, wirft sein Medizinstudium hin, wird zum Kämpfer für die Gerechtigkeit und will sich fortan um die von der Gesellschaft Abgehängten kümmern. Irgendwann bricht der Kontakt ab. Die zurückbleibenden, sich zu Unrecht kritisiert fühlenden Eltern rätseln: „Was bloß hatten wir falsch gemacht?“ Wobei sich beim ersten Streit die Sprachassistentin Alexa einschaltet: „Ich merke, dass ihr gerade dabei seid, in ungute Gewässer zu geraten. Atmet bitte alle dreimal tief durch.“ Irgendwann dann Norwegen, Natur, Einsamkeit, Funkstille …
Der entscheidenden Frage des Romans entkommen auch die Lesenden nicht: Was ist da falsch gelaufen? Zuviel um sich gekreist, ums eigene kleine Glück? Weltkrisen hin oder her. „Am Ende waren wir stets allen Unkenrufen zum Trotz in unseren bekannten Alltag zurückgekehrt.“
Thomas von Steinaecker: Die Privilegierten. S. Fischer, 624 Seiten, 24 Euro