Bertolt Brechts Verhältnis zur DDR war gespalten. Wie ist Ihr Verhältnis zu dem Staat, in dem Sie aufgewachsen sind?
MARION BRASCH: Mein Verhältnis ist auch ambivalent. Ich hatte eine gute Kindheit und eine gute Jugend, mit allem, was dazu gehört. Aber es gab auch immer Dinge, die nicht so leicht zu tragen oder zu ertragen waren. Das hat auch mein Leben und das meiner Familie geprägt. Dort hat sich im Kleinen abgespielt, was in der DDR im Großen passiert ist: Die Kinder, die Söhne, haben sich aufgelehnt gegen die Väter. Das ist ein bisschen das Motiv meiner Familie gewesen.
Sie beziehen sich damit auf den Konflikt zwischen Ihren drei Brüdern und Ihrem Vater. Sie selbst haben die Geschichte Ihrer Familie in einem Roman niedergeschrieben. Sind Sie diejenige, die eher beobachtet, als sich in die aktive Position zu begeben?
BRASCH: Es hat sicher lange gedauert, bis ich in eine aktive Position gegangen bin. Meine Rolle in der Familie war zunächst auch eher immer die einer Zuschauerin. Natürlich war ich aber auch den Konflikten meiner Familie ausgesetzt und musste mich nicht nur damit auseinandersetzen, sondern mich irgendwann auch dazu verhalten. Ich habe also beide Positionen kennengelernt. Die der kleinen Schwester und jüngsten Tochter, die auf das schaut, was in der Familie passiert. Und die, die zwischen die Fronten gerät und eine aktive Rolle einnimmt.
Wie sah dieser Weg aus?
BRASCH: Es war ein Prozess der Abnabelung. Meine Familie ist mir abhandengekommen im Laufe der Jahre. Am Schluss war ich mit meinem Vater allein, die anderen Familienmitglieder waren nicht mehr da. Mein Vater hat mir zwar nicht vorgeschrieben, was ich zu tun und zu lassen habe, aber ich musste lernen, meinen eigenen Weg zu gehen und das auch ohne seine Zustimmung.
Vergangenes Jahr haben auch Sie einen politisch-bedingten Konflikt erfahren: Weil Sie einen Wahlaufruf für den Linken-Spitzenkandidaten unterschrieben haben, hat Ihr Radiosender Ihnen aufgrund einer rechtlichen Bestimmung sechs Wochen lang Sendeverbot erteilt. Wie hat sich das angefühlt?
BRASCH: Das war schon seltsam. Man fragt sich, ob man nicht auch als Mensch, der in einem Medium arbeitet, eine Haltung haben darf. Das ist sicher etwas, worüber man diskutieren kann und sollte. Als existentielle Bedrohung habe ich es nicht empfunden, weil es zeitlich begrenzt war.
Sie sind heuer zum zweiten Mal beim Brechtfestival dabei. Vergangenes Jahr haben Sie aus Ihrem eigenen Buch gelesen, diesmal lesen Sie aus Werken von Ihrem Bruder Thomas Brasch. Warum haben Sie sich dazu entschieden?
BRASCH: Weil seine Texte so unglaublich heutig sind – genau wie die Texte von Brecht auch. Deswegen finde ich es toll, dass Brasch und Brecht auf einem Festival auftauchen. Gerade in einer Zeit, in der viele Menschen, besonders junge Leute, nach Orientierung suchen, nach Visionen oder Utopien suchen und sich fragen, in welcher Welt sie leben wollen, dringlicher denn je. Brecht und auch Brasch haben diese Fragen gestellt, deshalb gehören beide in diese Zeit. Ich werde aber auch Texte über Brasch lesen, denn es gibt viele kluge Dinge, die über ihn gesagt wurden. Neben Textausschnitten gibt es auch Filmausschnitte und Interviewpassagen von ihm. Es ist einfach toll, seine Gedanken in dieser Zeit zu wissen.
Ihr Bruder wird als eine Art geistiger Nachfolger Brechts gehandelt. Was hatten er und Bertolt Brecht in ihrer Welt- und Literaturauffassung gemeinsam? Worin haben sie sich unterschieden?
BRASCH: Was sie gemeinsam hatten, war vielleicht der Gedanke, Widersprüche in der Kunst zu thematisieren. Wobei sie das auf sehr unterschiedliche Weise getan haben. Von Brecht gibt es den Satz: „Die Widersprüche sind die Hoffnung.“ Das ist auch ein Kerngedanke, den meinen Bruder bei seiner Arbeit immer beschäftigt hat. Er wollte Widersprüche beschreiben und künstlerisch verarbeiten. Gesellschaftliche Verwerfungen hat er nicht konkret benannt, aber immer als Teil seines künstlerischen Ausdrucks genutzt. Das hat ihn persönlich interessiert, das hat seine Arbeit bestimmt. Was die beiden unterschieden hat, war die Sprache. Aber der Grundgedanke ihrer Kunst war ähnlich, denke ich.
Empfinden Sie es als schmerzhaft, sich mit dem Werk Ihres verstorbenen Bruders auseinanderzusetzen?
BRASCH: Naja, er hat auch schmerzhafte Texte geschrieben. Er schrieb nicht nur von politischen Verhältnissen oder Widersprüchen, sondern auch von Einsamkeit, Liebe, Fremdheit, Sehnsucht – also von Dingen, die vermutlich jeder kennt. Und die Art, wie er davon spricht, ist mitunter sehr existentiell und sehr schmerzhaft, nicht nur für mich als seine Schwester, die eben auch ihren großen Bruder vermisst.
Was haben Sie durch seine Texte von ihm gelernt, das Sie vorher nicht wussten?
BRASCH: Die Texte sind seine Art, die Welt zu sehen und zu beschreiben. Diese Art kannte ich schon, aber ich kannte meinen Bruder nicht besonders gut. Er war 16 Jahre älter als ich. Ich habe ihn immer sehr bewundert und geschätzt für die Klarheit, mit der er Dinge ausspricht. Und zwar sowohl als Mensch, mit dem man sich unterhält, sondern eben auch als Dichter, Dramatiker und Filmemacher. Er musste nicht die Worte „DDR“ oder „Osten“ benutzen, um seine Texte zu verorten. Er hat dafür eine Sprache gefunden, die nur er finden konnte. Das hat natürlich auch meinen geistigen Horizont erweitert.
Bringen Sie bei der Lesung auch Ihre eigene Stimme ein? Oder steht sie ganz Sinne Ihres Bruders?
BRASCH: Es gibt Passagen aus meinem Roman, die eine eigene Erzählebene bilden. Aber es geht nicht um mich, es geht nur um Thomas Brasch.
Sie gehen am Freitag auf die Bühne, die Leipziger Buchmesse ist zum dritten Mal in Folge abgesagt. Wie denken Sie darüber als ostdeutsche Schriftstellerin?
BRASCH: Dass die Buchmesse abgesagt wurde, ist sehr bedauerlich. Die Veranstalter werden ihre Gründe dafür haben. Es gibt aber etwas, was ich daran nicht gut finde. „Leipzig liest“, eine Veranstaltung, bei der Autorinnen und Autoren überall in der Stadt unterwegs sind und ihre neuen Bücher vorstellen, wurde ebenfalls abgesagt. Ich finde, das wäre nicht nötig gewesen. Der geschäftliche Ansatz der Messe, eine überfüllte Messehalle, ist das eine. Dass aber Menschen zu einer Lesung gehen, um Autoren und Autorinnen zu hören, ist etwas anderes, denn öffentliche Veranstaltungen dürfen ja stattfinden. Mir ist nicht klar, was die Absage soll, und ich finde sie nicht gut.
Zur Person
Marion Brasch, geboren 1961 in Ost-Berlin, ist Schriftstellerin und Journalistin. Ihre drei verstorbenen Brüder, darunter Thomas Brasch, zählten zur Künstler-Szene der DDR. Im Roman "Ab jetzt ist Ruhe" hielt sie 2019 ihre Familiengeschichte fest.