Wohl dem, der ein Archiv führt. Dort sind nicht selten Dokumente gelagert, deren Wert sich mit den Jahrzehnten steigert. Beispiel: Leonard Bernstein und das Schallarchiv des Bayerischen Rundfunks.
Regelmäßig trat der US-Dirigent (1918-1990) erst seit den 1980er-Jahren in München auf. Damals lernte er das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks besonders schätzen und lieben – Nebeneffekt der Besetzungspolitik Herbert von Karajans bei den Berliner Philharmonikern, wo Bernstein und auch Georg Solti als renommierte Konkurrenten Karajans weitgehend ignoriert wurden. Nach einem Engagement im Oktober 1976, als Bernstein zugunsten von Amnesty International mit dem BR-Symphonieorchester und einem allein Beethoven gewidmeten Programm auftrat – auch davon hat sich ein Mitschnitt erhalten –, setzte die Reihe alljährlicher Konzerte 1983 ein, nach seiner über die Maßen bewunderten „Tristan“-TV-Produktion von 1981.
Bernstein nennt es „eine Art Schubert-Jazz“
Im Schallarchiv des Bayerischen Rundfunks hat sich auch ein Probenmitschnitt zu einem der Münchner Bernstein-Konzerte erhalten – zu jenem im Kongresssaal des Deutschen Museums 1987, bei dem dann in einer Sternstunde der Musik die ganze Wärme und Motivationskunst des Charismatikers Bernstein leuchteten. Er studierte damals Franz Schuberts große C-Dur-Sinfonie ein, wobei nicht nur sein herzlicher Ton in erstaunlich gutem Deutsch frappierte – sogar das Wort „Sitzfleisch“ kennt er –, sondern auch seine immer wieder präzisen Forderungen hinsichtlich Artikulation und dynamischen Abstufungen. Seine Schubert-Interpretation: das Ergebnis hochdifferenziert ausgeführter Partitur-Anweisungen, hellhörend ergänzt um etwas, das Bernstein damals als „eine Art Schubert-Jazz“ bezeichnete. Akzente auf an sich weniger betonten Taktteilen garantierten ihm und der Rhythmik: Swing. Bernstein vor dem Orchester: „Man kann diese Sinfonie nicht mit downbeat spielen.“ Was er stattdessen wollte, war ein offbeat.
Und so, wie er immer wieder mit rauchiger Stimme zur Musik mitsang, mitknurrte, so lässt er es nicht an Lob und Beflügelung der Orchestermusiker fehlen: „Wunderbar!“, „Wunderschön!“, „Edel!“, „Danke!“ wirft er unter dem Spiel ein – wohl wissend, dass die Musiker sich deswegen nicht zufrieden zurücklehnen werden, sondern mehr davon verlangen… Bernstein vor dem versammelten Orchester: „Es ist so schrecklich schwer, gute Musik zu machen. Aber es lohnt sich…“ Und: „Solches Musizieren zu erleben, ist für mich nicht Alltag!“ Sowohl diese lustvoll hörenswerte Probe als auch der Mitschnitt des auratischen Konzerts sind jetzt auf CD beim Label BR-Klassik veröffentlicht worden, zusammen mit dem Beethoven-Abend 1976 auf einer weiteren CD (Leonoren-Ouvertüre Nr. 3, 5. Sinfonie) und einem Auftritt von 1983, als Bernstein sein eigenes Divertimento und Robert Schumanns 2. Sinfonie dirigierte.
Der Maestro konnte auch selbstkritisch sein
Hatte Bernstein dann sein Konzert absolviert – auch jenes mit der großen C-Dur-Sinfonie im Kongresssaal des Deutschen Museums –, dann wartete hinter der Bühne sein Manager mit einer bereits glimmenden Zigarette und einem Glas des geliebten Whiskeys, wovon Lenny erst einmal zwei Züge nahm, bevor er sich der schier grenzenlosen Liebe des Auditoriums stellte.
Übrigens: Auch Bernstein gelang trotz seines brennenden Einsatzes nicht jeder Abend. Aber wenn es einmal nicht so klappte mit seiner ausstrahlenden Umarmung von Musik, Orchester und Publikum, dann war er mit Größe auch bereit zu konzedieren: „I didn’t achieve – Ich hab’s nicht geschafft.“
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