Es war Donnerstag und sollte ein relativ milder Wintertag werden, dieser 10. Februar 1898, im maroden deutschen Kaiserreich, vereinzelte Schneefälle, Temperaturen um die null Grad. Noch hatte sich vom Erdgeschoß des schäbig wirkenden Altstadthauses nicht der tägliche Lärm erhoben, den eine Feilenhauerwerkstatt dort fabrizierte. Bloß die beiden Lechkanäle, die die Häuserreihe "Auf dem Rain" vorne wie hinten umspülten, rauschten auch jetzt, als in Nummer 7, erreichbar über eine kleine Holzdielenbrücke, es war 4.30 Uhr und noch tiefe Nacht, etwas geschah, dessen man sich noch 125 Jahre später erinnern sollte.
Und das nicht bloß hier, in Augsburg, dieser alten Römerstadt von historischer Bedeutung, die durch den Aufstieg der Industrie gerade wieder eine Macht war, ein Anziehungspunkt, aber entgegen der wachsenden Maschinenfabriken unmodern im Geist, die Gesellschaft geprägt von den Wertvorstellungen höherer Beamter und des Militärs. Fünf Jahre zuvor war Sophie Brezing zugezogen, aus Roßberg bei Bad Waldsee stammend, ausgebildete Näherin, nach Stationen in Cannstatt und Esslingen, weil der Mann ihrer Schwester hier eine gute Anstellung bekommen hatte in einer der Fabriken. Und eben von dort hatte der einen Freund in die gemeinsame Wohnung mitgebracht und vorgestellt, im gleichen Jahr wie sie gekommen und ganz unten bei Papier Haindl begonnen, Berthold Brecht, Schwarzwälder wie sie, zwei Jahre älter, zuvor Kaufmann in Stuttgart gewesen, jetzt hier aber seine Aufstiegschance witternd.
Brechts Mutter war engagierte Protestantin, die schon mal Gedichte schrieb
Und nicht beim Feilenhauer mit seiner vierköpfigen Familie im Dachgeschoß droben, sondern direkt drunter, im Geschoß, wo auch zwei Kleiderhändlerinnen noch hausten, bei diesen beiden, bei Sophie und Berthold, dort geschah es. Am Tag vor ihrer Hochzeit vor ziemlich genau neun Monaten waren die hier eingezogen: er schlank und behände, ein Mann mit schneller Auffassungsgabe, wendig und bodenständig, ehrgeizig und kompetent, aber auch mal aufbrausend, ein Nationalliberaler und Katholik von mittlerer Größe; sie grazil und vornehm wirkend mit ihrer aufrechten Haltung, ihrem blassen, weichen Gesicht bei dunklen Augen und fast schwarzem Haar, dabei aber auch sehr kränklich und eine romantische Natur, engagierte Protestantin, die schon mal Gedichte schrieb:
„Treue Liebe kommt von Herzen/ Treue Liebe brennet heiß,/ O wie gut hat mancher Mensch/ der nicht weiß, was Liebe heißt!“
An diesem 10. Februar 1898 berichteten die Augsburger Neueste Nachrichten vom sensationellen Prozess um den Schriftsteller Emil Zola in Paris. Der hatte einen offenen Brief an Frankreichs Präsidenten geschrieben, Überschrift „J'accuse!“, in dem er die Militärs anklagte, Urheber eines teuflischen Justizirrtums an dem Hauptmann Dreyfus gewesen zu sein. Außerdem: Berichte über ein Säbelduell, das beide Offiziere schwer verletzt überlebt hatten; der Hinweis auf Wagners "Lohengrin" am Abend im Staatstheater und die Annonce einer armen Witwe mit fünf Kindern, die "edle Menschenfreunde" um eine kleine Unterstützung bittet.
Sophie Brecht liebte die Geschichten aus der Bibel
Vielleicht hat Sophie Brecht, wie sie nun ja hieß, inzwischen 27, den Tag bereits tief in der Nacht mit Singen begonnen, um sich zu beruhigen, als sich die Geburt ihres ersten Kindes ankündigte. Sie liebte die Geschichten aus der Bibel, am meisten die Choräle. Vor allem Julie von Hausmanns Preisung des 73. Psalms, Vers 23–24, mit seiner tröstlichen Botschaft, dass auch arme und schwache Seelen wie die ihre und womöglich auch die ihres Kindes dereinst vom Vater im Himmel erlöst werden:
"So nimm denn meine Hände/ Und führe mich,/ Bis an mein selig Ende/ Und ewiglich./ Ich mag allein nicht gehen,/ Nicht einen Schritt;/ Wo Du wirst geh'n und stehen,/ Da nimm mich mit.“
Aber jetzt war ja auch die Hebamme bei ihr, Anna Vogl, die tags darauf die Geburt bei der nahen Barfüßerkirche melden sollte, protestantisch, Zeichen einer bei aller körperlichen Schwäche doch charakterlichen Eigenwilligkeit der Mutter, die in jenen Zeiten fast schon an Rebellion grenzte, weil sie entgegen dem Katholizismus ihres Mannes ihre Konfession nicht nur beibehalten hatte, sondern auch darauf bestand, die Ehe von einem ihrer Priester schließen zu lassen, das Kind in ihrem Glauben taufen zu lassen. Was Berthold nur grummelnd hinnahm. Vorzeichen vielleicht auch schon dafür, dass es keine glückliche Ehe werden würde. Sein Aufstieg in der Fabrik bis zum Direktor und doch immer wieder Ärger auch ums Geld, weil sie im Leben wie eine Dame erscheinen wollte und zudem sehr viel Zeit in ziemlich teuren Sanatorien verbrachte …
"Aigihn" würde ihn Brechts Vater später rufen
Was nun aber in dieser Nacht passierte, das ließ Sophie später an ein Wunder glauben: Was da durch sie zur Welt gekommen, vor ihren Augen aufgewachsen war. Eugen Berthold Friedrich Brecht nannten sie den Säugling, im da noch ersten Namen wieder eigenwillig nach Sophies Bruder, einem Nichtsnutz und Trinker. "Genele" aber würde sie ihn rufen, "Aigihn" ihn der Vater, wenn er sich später, nach wiederholtem Umzug im Klauckeviertel mit seinen Freunden herumtreiben sollte. Die ihn gleichzeitig bewunderten und hassten, diesen seltsamen Buben. Schwächling und Nervenbündel einerseits, oft mit zuckendem Kopf und plötzlichen Grimassen – aber andererseits einer, der immer den Anführer markieren musste.
Nur wenn er seine Wildwestgeschichten erzählen konnte, Karl Mays Abenteuer von Winnetou und Old Shatterhand, wurde er ruhiger. Er kannte die Geschichten auswendig. Dann teilte er vollgekritzelte Blätter aus und wies jedem seine Rolle zu, oder die Kinder mussten zuhören, wenn er ihnen selbst verfasste Reime vortrug; und hinterher wollte er wissen, ob sie ihnen gefallen hätten. Die anderen aber wollten einfach nur spielen – und spielten ihr eigenes Spiel: Eugen wurde öfters verprügelt.
Er sollte später Bertolt Brecht genannt werden
Für die Mutter war er ohnehin von diesem Tag der Geburt an ein Sorgenkind. Weil sie so viel von sich selbst in ihm erkannte. Auch die Kränklichkeit, das schwache Herz. Darum erdrückte sie ihn doppelt mit Fürsorge und Liebe. Während der (lebens)tüchtige Vater Berthold dafür nur Spott und Verachtung übrig hatte, Krankheit dürfe man einfach nicht zulassen.
Doch der Lärm, der an diesem Donnerstag im Februar vor 125 Jahren am Fuße eines Hügels in der Augsburger Altstadt, zwischen zwei Lechkanälen, in einer ärmlichen Mietwohnung ausbrach, war zunächst mal ein sehr beruhigender. Sehr bald schon würde die junge Familie wegen des Handwerklärms unten wegziehen. Jetzt aber schrie oben ein Baby. Es sollte später Berthold zu seinem Namen wählen, allerdings ohne alles Holde in dem des Vaters, sondern hart: Bertolt Brecht.
Zusammengestellt aus:
- Stephen Parker: Brecht – Eine Biografie. 1030 S., 58 €
- Werner Mittenzwei: Das Leben des Bertolt Brecht – oder der Umgang mit den Welträtseln. Aufbau-Verlag, 1524 S., 18,90 €
- Jan Knopf: Bertolt Brecht: Leben, Werk, Wirkung. Suhrkamp, 157 S., 9 €