Startseite
Icon Pfeil nach unten
Kultur
Icon Pfeil nach unten

Berliner Philharmoniker: Musik in Zeiten der Finsternis: Kirill Petrenko dirigiert Schostakowitsch

Berliner Philharmoniker

Musik in Zeiten der Finsternis: Kirill Petrenko dirigiert Schostakowitsch

    • |
    Meisterlich auch bei Schostakowitsch: die Berliner Philharmoniker unter Kirill Petrenko.
    Meisterlich auch bei Schostakowitsch: die Berliner Philharmoniker unter Kirill Petrenko. Foto: Frederike van der Straeten

    Das Jahrzehnt zwischen 1943 und 1953, in dem Dmitri Schostakowitsch seine Sinfonien 8, 9 und 10 komponierte, war eine Dekade der Finsternis. Ungeheuer der Krieg im eigenen Land gegen die Deutschen, kaum weniger bedrohlich der Sowjet-Diktator Stalin. Wer sich ihm nicht fügen wollte, spielte mit dem Leben. Wie ließ sich da Kunst nach eigenen Vorstellungen schaffen? Schostakowitsch hat es gewagt, dabei mit höchstem Einsatz gespielt, und schließlich, 1953, hatte er Stalin überlebt. Der Schrecken jedoch steckte Schostakowitsch tief in den Knochen.

    Nachvollziehbar, wenn Kirill Petrenko, Chef der Berliner Philharmoniker, sagt, dass diese Sinfonien ihm und dem Orchester während Corona besonders nahegegangen seien. Nicht, weil man sich direkt mit Schostakowitsch verglich; doch erlaubte die Pandemie den Musikern ebenfalls nur ein Arbeiten unter eingeschränkten Bedingungen. Petrenko und die Berliner haben die Sinfonien in c-moll, Es-Dur und e-moll im Herbst 2020 und im Jahr darauf eingespielt.

    Die zeitlose Sinfonik von Schostakowitsch

    Als die Veröffentlichung des Albums heranrückte, stand die Welt schon unter dem Eindruck einer neuen Bedrohung, dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine. "All das", schreibt Petrenko im Booklet zu den Aufnahmen, "was Schostakowitsch in seinen Sinfonien so überdeutlich zum Ausdruck gebracht hat und was wir überwunden glaubten, erfahren wir fassungslos heute selbst." Schostakowitsch, fürchterlich zeitlos.

    Die 8. Sinfonie (1943) sollte, wäre es nach der sowjetischen Kulturbürokratie gegangen, den Durchhaltewillen nach der erfolgten Kriegswende bei Stalingrad stärken, die 9. Sinfonie (1945) das Hochgefühl über die geschlagene Hitler-Armee zum Ausdruck bringen. Schostakowitsch aber ließ sich hier wie dort nicht platt vereinnahmen. Aber doch, nach Stalins Tod, mit der 10. Sinfonie (1953) und in eigener Sache eine triumphale Geste des Komponisten? Auch das nicht, jedenfalls nicht in offener Klangrede.

    Die Ambivalenz gelingt hervorragend

    Es ist die überwältigende Leistung von Kirill Petrenko in diesen Aufnahmen, die Ambivalenz von Schostakowitschs Musik vor dem Hintergrund des Zeitgeschehens, die Janusköpfigkeit zwischen geforderter Vereinnahmung und künstlerischer Selbstbehauptung in klingendes Resultat zu überführen. Und Petrenko modelliert die Dringlichkeit dieser Sinfonien umso plastischer, als er gänzlich auf vordergründiges Herausstellen verzichtet.

    Da wird nicht noch zusätzlich aufgedreht, wo Schostakowitsch eh schon Fratzen zeigt, nicht in den grotesk anmutenden zweiten Sätzen der 8. oder auch der 10. Sinfonie. Diese Sätze oder auch vergleichbare Passagen in anderen Zusammenhängen sind nicht schrill herausgeschrien, sondern mit eiskalter Präzision exekutiert, was die Abgründigkeit dieser Musik nur noch potenziert.

    Box in üppiger Aufmachung

    Das Monströse, das dem Ästhetischen innewohnt, es war vielleicht noch nie in solch atemschneidender Konsequenz zu vernehmen wie im Spiel dieses Exzellenzorchesters unter seinem jetzigen Chefdirigenten. Und das gilt nicht nur für Schostakowitschs Scherzi, sondern auch für die hauchfeinen Dynamikstufen im Kopfsatz der Achten, wo durch allen Streicherschmelz hindurch der Abgrund stets sichtbar bleibt, oder für das nur schenibar Spielmusikhafte der Neunten: Allesamt musikalische Kippbilder, die sich dem festlegenden Eindruck entziehen und das Konträre immer gleich mitabbilden.

    Vorgelegt sind die drei Sinfonien in De-luxe-Aufmachung (Berliner Philharmoniker Recordings): Die üppige Klappbox enthält neben zwei CDs und einem Booklet mit mustergültigen Texten auch eine Blue-ray mit den kompletten Aufnahmevideos sowie einem langen Interview mit Kirill Petrenko zu allen drei Sinfonien. Auch da, nicht nur am Pult, hat der Mann Maßgebliches zu sagen.

    Diskutieren Sie mit
    0 Kommentare
    Dieser Artikel kann nicht mehr kommentiert werden