Er wollte nie viel von sich preisgeben. Auch weil er nicht mit der Familie von Schirach und deren Verstrickungen in der NS-Zeit in Verbindung gebracht werden wollte, hat er sich hinter einem selbst gewählten Namen versteckt: Benedikt Wells. Doch in dem Buch „Die Geschichten in uns“, das er seinem Vater gewidmet hat, lässt der immer noch jugendlich wirkende Erfolgsautor die Lesenden teilhaben an seinem Leben und Schreiben. Die Gedanken und Sätze dieses Buches kamen ihm fast mühelos, schreibt Benedikt Wells im Vorwort. Es ist kein Roman geworden, sondern eine Art Werkstattbericht. Inspiriert dazu hat ihn Stephen King mit seinem Buch „On Writing“ (Über das Schreiben). Und wie sein Vorbild schreibt Wells auch über sich selbst, denn ohne den Jungen, der er war, „und sein Aufwachsen kann ich nicht von meinem Schreiben erzählen“.
Und dieses Aufwachsen ist alles andere als einfach. Die Mutter manisch-depressiv, der Vater insolvent. Das staatlich-katholische Grundschulheim empfindet der sensible Junge als eine Zauberwelt weit weg vom problembehafteten Zuhause. Dass es mit den Eltern auch glückliche Momente gab, will er nicht verhehlen. „Ihre Liebe trotz aller Probleme und der Zugang zur Literatur gehören zu den größten Privilegien meines Lebens.“ Schon mit sechs beginnt er zu schreiben – aber mit 14 interessiert er sich für nichts mehr.
Schlüsselerlebnis war für Wells ein Buch von David Irving
Ein Jahr später liest er John Irvings „Das Hotel New Hampshire“ und fühlt sich „umgehauen“ von „diesem witzigen und überbordenden Erzählen“. Er liest alle weiteren Bücher von Irving und kann sich plötzlich wieder vorstellen, selbst zu schreiben. Denn beim Schreiben kann er ein anderer sein: „Das Schreiben half mir, einen Teil meiner selbst ins Sichtbare zu holen, der zuvor im Verborgenen lag“ - auch die Kindheitstraumata, die Erlebnisse in den unterschiedlichen Internaten, die Unzuverlässigkeit der Eltern, Gefühle wie Wut und Trauer. „Es dauerte viele Jahre und mehrere Romane, bis sie wie ein Bumerang zu mir zurückkehrten.“
Es ist ein ehrlicher, oft auch ironischer Rückblick auf die ersten Gehversuche in Berlin, wo er viel Zeit und Muße hat, aber eine Existenz „mit vampirhaften Zügen“ führt. Damals entstehen erste Entwürfe der Romane „Spinner“ und „Becks letzter Sommer“. Nach der „Kompletthinrichtung“ durch den ehemaligen Lehrer und mehr als 60 Absagen fällt der junge Autor in ein tiefes Loch. Auf die Beine hilft ihm schließlich, „dass ich für ein paar Wochen zu Freunden nach Augsburg zog“.
Plötzlich ist Benedict Wells Autor eines großen Verlags
Es folgen Wechselbäder zwischen Erfolgserlebnissen in einem neuen Job und Sorgen um die Mutter. Und dann der unerwartete Coup: Verleger Daniel Keel macht den jungen Schriftsteller zum Diogenes-Autor. Sein größter Traum wird Wirklichkeit. „Diesen Moment werde ich nie vergessen. Nie, nie, nie.“ Im Rückblick sieht Benedikt Wells sich selbst dennoch kritisch als unreifen Teenager, der „auf Literatur-Rockstar machte“. Es geht auf und ab in diesem Buch, eine Achterbahnfahrt der Gefühle zwischen himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt. „Vielleicht ist auch mein Schreiben geprägt von dem unmöglichen Versuch, die Brüche im Leben meiner Eltern oder in meiner Kindheit zu reparieren“, sinniert er. „Wir sind die Geschichten in uns.“ Mit Ende 30 ist er dabei, sich selbst zu verstehen.
Dabei hilft ihm auch dieses Buch, das im zweiten Teil eine Anleitung für angehende Schreiber enthält mit vielen Rückgriffen auf so unterschiedliche Autoren wie Tolkien und Wolfgang Herrndorf, Otfried Preußler und Donna Leon, Philip Roth und Mariana Leky. „Man wird mit jedem Buch aufs Neue erwachsen“, schreibt Wells und ermuntert zum Drauflosschreiben. Was dann folgt, ist allerdings die größere Herausforderung: das Überarbeiten. Dazu zitiert er Stephen King: „Schreiben bedeutet Umschreiben, die Konzentration auf das Wesentliche, veredeltes Denken“. Dahin zu kommen kann zur Qual werden, das hat Benedikt Wells immer und immer wieder erfahren. Auch diese Erfahrung teilt er mit den Lesenden. Und er scheut sich nicht, Rohfassungen seiner eigenen Werke zur Diskussion zu stellen.
Er teilt die Erfahrung von Paul Auster, „man findet das Buch, während man es schreibt“, und gesteht, dass er seine echte Jugend in Bayern erst viel später und nur mit einer erfundenen Jugend in den amerikanischen 1980ern schildern konnte. „Wir brauchen die fiktiven Geschichten, um unsere eigene erzählen zu können.“ Fast scheint es, als sei ihm gegen Ende des Buches so viel Offenheit schon wieder peinlich. In der ausführlichen Danksagung, die auch seine Familie einschließt, hofft Wells, dass er ihr im biografischen Teil nicht zu viel Persönliches zugemutet hat.
Benedict Wells: Die Geschichten in uns. Diogenes, 400 S., 26 €.
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