Tag drei der Bayreuther Festspiele. Die Vorstellung ist ausverkauft, doch die Atmosphäre rund um den Grünen Hügel hat sich gewandelt. Die Schauläufer vom Eröffnungstag sind weitergezogen, nun gilt das Interesse wieder zuvörderst dem Wagnerschen Werk, an diesem Spätnachmittag dem wiederaufgenommenen „Parsifal“. Der hatte im vergangenen Jahr Furore gemacht, weil in der Inszenierung von Jay Scheib AR-Brillen zum Einsatz kommen. Grund genug noch einmal nachzusehen, was denn die avancierte Digitaltechnik für die Auslegung von Wagners letztem Bühnenwerk aufzubieten hat.
AR steht für Augmented Reality, erweiterte Realität insofern, als eine spezielle Brille, die der Zuschauer während der Vorstellung trägt, zwar die Durchsicht auf das Bühnengeschehen ermöglicht, zusätzlich jedoch digital erzeugte Bilder sich mal mehr, mal weniger transparent über das analoge Geschehen legen. Was die AR dann auch fundamental von der ebenfalls für Theaterproduktionen (etwa in Augsburg) eingesetzten Virtual Reality unterscheidet, bei der in großen und nach außen abgeschlossen Brillen ein ausschließlich digital erzeugtes Geschehen sichtbar ist. Greift man nun in diesem Bayreuther Festspiel-Sommer erneut zu der an der Sitzlehne verstauten und per Kabel versorgten AR-Brille, so ist festzustellen: Markant Neues hat sich auf der erweiterten Realitätsebene nicht getan. Vor dem Hintergrund der Bühnenhandlung um den „reinen Toren“ Parsifal, der den in finstere Hände gelangten heiligen Speer für den verwundeten Gralskönig Amfortas zurückgewinnt, sieht man verschiedenste Visualisierungen im virtuell erweiterten Raum aufploppen und wieder verschwinden, frei Assoziiertes zumeist: trockenes Geäst und verschneite Landschaft, vorüberziehende Tiere und Avatare, blutende menschliche Körperteile und wogende Blüten ...
Manchmal tut man gut daran, die Brille abzunehmen
Der Eindruck vom vergangenen Jahr verfestigt sich: Man verpasst nichts für die Inszenierung Wesentliches, wenn man des AR-Gaukelspiels nicht ansichtig wird. Was ja beim Großteil des Publikums der Fall ist, denn auch in diesem Jahr sind es erneut nur 330 AR-Brillen, die pro Vorstellung im knapp 2000 Besucher fassenden Festspielhaus zur Verfügung stehen. Mit der Konsequenz für Regisseur Scheib, dass er seine Inszenierung ganz wesentlich für die unbebrillten Zuschauer konzipiert hat. Es gibt Momente in dieser Inszenierung, in denen man auch als AR-Betrachter gut daran tut, die Brille von der Nase zu nehmen, um sich zentrale Vorgänge auf der Bühne nicht vom digitalen Bildeinfall verdecken zu lassen. Der ohne Brille Gebliebene sei also nicht entmutigt, wenn er bei der Karten Bestellung (Brille kostet extra) keine der AR-Sehhilfen mehr zu ergattern vermag.
Jay Scheibs Inszenierung ist sicher nicht der große „Parsifal“-Wurf, doch die Inszenierung hat ihre Meriten. Auf der Ebene des Details gibt es manch Aufschlussreiches zu entdecken. Was Parsifal mit seinem unbedarften Pfeilschuss auf einen Schwan anrichtet, diese Schuld einer tödlichen Verletzung mag er im selben Moment in der unheilvollen Wunde des Amfortas zu erkennen - frappierend, wie Scheib diese Parallelität ins Augenfällige treibt. Nach wie vor recht überfallartig jedoch wartet die Inszenierung mit dem auf, worauf sie hinauswill: Auf eine (im Bild eines verrotteten Abbau-Baggers symbolisch verdichtete) Kritik am Umgang unserer Spezies mit den Ressourcen der Natur. Parsifal, „durch Mitleid wissend“ geworden, lässt den Gral - bei Scheib steht er für die aus der Erde geholten edlen Metalle und seltenen Erden - buchstäblich zerplatzen: Zeichen dafür, dass dieser neue Gralskönig einen anderen Weg einzuschlagen gedenkt, mit Kundry als seiner Gefährtin (die bei Wagner stirbt).
Pablo Heras-Casado dirigiert einen luziden und doch dringlichen „Parsifal“
Für Andreas Schager ist der Parsifal bei diesen Festspielen neben dem Tristan die zweite große Partie. Nur dass ihm diese überzeugender gelingt: Den unbedarften, dennoch nicht siegfriedhaft auftrumpfenden Knaben vermag Schager ebenso eindrücklich zu geben wie später den gereiften neuen Gralskönig. Ekaterina Gubanova als Kundry steht in der Nachfolge der letztjährigen phänomenalen Rollen-Anverwandlung durch Elina Garanca; und doch ist die Gubanova, gerade auch darstellerisch, ihr hart auf den Fersen. Georg Zeppenfeld als Gurnemanz singt wieder einmal in seiner eigenen, unübertrefflichen Wagner-Bass-Liga. Vorzüglich auch Derek Welton als Amfortas der Schmerzen, schlicht packend der Festspiel-Chor in seiner dramatischen Dynamik. Pablo Heras-Casado schließlich formt Wagners Partitur zu luziden und dennoch dringlichen Klangereignis. Jubel für alle Beteiligten, teils sogar für Regisseur Scheib - die Zahl der Buhs für seinen AR-„Parsifal“ hat jedenfalls stark abgenommen.
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