Ein bisschen Wirbel muss schon sein in einem Bayreuther Festspiel-Sommer. Nicht gerade so heftig wie im vergangenen Jahr, als neben den krankheitsbedingten "Ring"-Rochaden die Wagner-Festspiele auch noch als angeblicher Hort des Sexismus ans Licht gezerrt wurden (die Einstellung des eingeleiteten juristischen Verfahrens mangels Strafverfolgungsinteresse fand dann weitaus weniger Aufmerksamkeit).
Aber ein bisschen Krach um Bayreuth gehört im Vorfeld doch irgendwie zum festlichen Spiel. Also sind es in diesem Jahr die Ticketverkäufe, mit denen das Opernfestival seit ein paar Wochen von sich reden macht. Was, es gibt unmittelbar vor der Eröffnung noch Karten für die Festspiele, wo Bayreuth doch bekannt dafür war, dass man jahrelang um Einlass anstehen musste? Und jetzt sogar den "Ring"-Vierteiler nicht nur en bloc, sondern einzeln im Verkauf?
Der ehemalige Wiener Staatsopern-Intendant Ioan Holender, ein Mann der alten Opernschule, nutzte die Karten-Nachricht gleich zu einem Hieb gegen die seiner Meinung nach fragwürdige Aufführungsqualität in Bayreuth, was wiederum weitere Kommentatoren auf die Idee brachte, hinter Holenders Sottise als eigentlichen Stichwortgeber Christian Thielemann zu vermuten, den von Festspielchefin Katharina Wagner nicht mehr ganz so wie dereinst umworbenen Dirigenten, der in diesem Jahr erstmals seit zweieinhalb Jahrzehnten nicht in Bayreuth in Erscheinung tritt. Dabei scheint die Schuld an der Kartenblamage eher bei der zögerlich agierenden Festspiel-Geschäftsführung zu liegen. Wie auch immer, es brodelt wieder termingerecht am Grünen Hügel.
Schwebt da ein Fluch über den Bayreuther Festspielen?
Noch ein wenig Würze kam dazu, als vorvergangene Woche bekannt wurde, dass der Tenor Joseph Calleja, der in der diesjährigen "Parsifal"-Neuproduktion die Titelrolle übernehmen sollte, wegen einer Halsinfektion nicht antreten wird. Ein Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, denn damit sind den Festspielen in diesem Jahr sämtliche ursprünglich vorgesehenen Sänger für die männlichen Titelpartien abhandengekommen, ob es sich nun um Stephen Gould als Tristan, Tannhäuser und Siegfried handelte oder um John Lundgren als Holländer.
Schwebt da ein Fluch über den Festspielen? Weitaus realistischer ist, dass für die kräftezehrenden Wagner-Titelpartien nicht eben reihenweise Topsänger zur Verfügung stehen und deshalb die wenigen entsprechend nachgefragt und beansprucht sind. So wie jetzt Andreas Schager, der beim "Parsifal" einspringt für Calleja und das ebenfalls tut für die Siegfried-Partie in der "Götterdämmerung" (beim dritten "Ring"-Abend, "Siegfried", war Schager von vornherein gesetzt). Für den österreichischen Heldentenor, der in der Bayreuther "Parsifal"-Vorgängerproduktion von 2016 bis 2019 schon einmal die Titelpartie übernommen hatte, kommt da einiges zusammen in den vier Festivalwochen vom 25. Juli bis zum 28. August. Die weiteren Titelrollen-Einspringer heißen in dieser Spielzeit Michael Volle (Holländer), Clay Hilley (Tristan) und Klaus-Florian Vogt (Tannhäuser).
Bestenfalls ein halber Aufreger macht sich am neuen "Parsifal" fest, inszeniert von dem US-Amerikaner Jay Scheib. Es ist das erste Mal in der Geschichte der Bayreuther Festspiele, dass eine Produktion Gebrauch macht von einer Form des digitalen Theaters, in diesem falle von Augmented Reality. Zum echten Bühnenbild kommen dabei als "erweiterte Realität" virtuelle Elemente hinzu, die vom Zuschauer jedoch nur mithilfe einer Spezialbrille gesehen werden können. Nun fasst das Bayreuther Festspielhaus pro Vorstellung knapp 2000 Besucher, doch sind für weitaus nicht alle entsprechende AR-Brillen vorhanden, zu teuer in der Anschaffung. Gerade mal 330 Vorstellungsbesucher werden die virtuellen Erweiterungen zu Gesicht bekommen, von denen Regisseur Scheib in einem Interview schon mal einen Vorgeschmack gegeben hat: "Wir werden Mauern explodieren lassen, wir werden sie verschwinden lassen und das szenische Design fast bis zur Unendlichkeit ausweiten. Dinge werden durch die Luft fliegen." Und doch, versichert Scheib, sollten sich die 1700 unbebrillten Besucher (ihre Tickets kosten weniger) nicht um den "Parsifal" gebracht fühlen: "Auch ohne die Brillen ist die Produktion eine vollwertige – mit komplettem Design, kompletten Kostümen." Ob mit oder ohne digitale Brille, für alle gleich werden die musikalischen Eindrücke sein, für die beim neuen "Parsifal" der spanische Dirgent Pablo Heras-Casado mit seinem Bayreuth-Debüt sorgt. Erstmals am Grünen Hügel tritt auch Elina Garanca auf, die sich die Partie der Kundry mit Ekaterina Gubanova teilt, nachdem die zunächst gesetzte Russin Ekaterina Semenchuk "aus persönlichen Gründen" abgesagt hat.
Endlich darf Pietari Inkinen den "Ring" dirigieren
Fernerhin wird es in diesem Bayreuther Sommer spannend sein zu erfahren, wie sich der bei seiner Premiere im vergangenen Jahr krachend durchgefallene "Ring des Nibelungen" bei der Wiederaufnahme darstellen wird. Regisseur Valentin Schwarz hat für einige Stellen schon mal Nachjustierungen angekündigt. Auf ebenso viel Interesse stößt der Dirigent des diesjährigen Opern-Vierteilers: Pietari Inkinen war 2022 an Corona erkrankt und musste kurzfristig durch Cornelius Meister ersetzt werden. Drei Jahre hat der finnische Dirigent nun auf seinen "Ring"-Einsatz gewartet, denn ursprünglich war die Produktion schon für das Jahr 2020 vorgesehen, wegen der Pandemie jedoch verschoben worden.
Letztmals wird in diesem Jahr der "Tannhäuser" in der bejubelten Inszenierung von Tobias Kratzer zu sehen sein. Jung, frech, divers – Kratzers szenischer Wurf darf als Muster gelten von Katharina Wagners Kurs, die Bayreuther Festspiele neuen Publikumsinteressen zu öffnen und eingefahrene Verhältnisse zu schleifen. Dazu gehört auch, dass zunehmend Frauen Platz nehmen auf dem Dirigierstuhl im Orchestergraben: Erneut Oksana Lyniv beim "Fliegenden Holländer", und erstmals und als erst zweite Festspieldirigentin die Französin Nathalie Stutzmann, die den "Tannhäuser" übernimmt.