Ganz gut, dass Richard Wagners früher Plan, nach der Uraufführung seines „Ring des Nibelungen“ die Partituren samt extra erstelltem Theater zu verbrennen, nicht in die Tat umgesetzt wurde. So bleibt seiner Nachwelt ein zentrales Werk erhalten über das, was den Menschen, ja die Menschheit ausmacht. Und den Wagner-Stätten Bayreuth und München, die ja hälftig die Uraufführungen des Vierteilers bestritten, ein dauerndes Objekt konkurrierender Betrachtung.
Gerade hat München die Nase vorn. Der letzte Bayreuther „Ring“ ließ zu wünschen übrig; und jener Regisseur, der 2019 aufgrund eines fulminanten Bayreuther „Tannhäuser“ das Blatt auf dem Grünen Hügel im „Ring“-Jubiläumsjahr 2026 vielleicht hätte gewendet, der inszeniert die Tetralogie nun an der Isar, in der Bayerischen Staatsoper, statt in Bayreuth: Tobias Kratzer. Ihm ist momentan, also nach dem Auftakt mit „Rheingold“, abermals eine vollkommen neue, eine stilbildende Form von Regiekunst zuzutrauen. Der Mann sitzt bestens zwischen allen Stühlen, gibt sich begründet respektlos und kann genau das, wobei sich Kolleginnen und Kollegen mitunter ein wenig verzetteln auf der Bühne: eine Geschichte detailreich, klug deutend, bannend nacherzählen. Münchens neues „Rheingold“ ist ein starker „Ring“-Beginn. Zu beten ist, dass es à la longue, in den weiteren 13 Stunden mit „Walküre“, „Siegfried“ und „Götterdämmerung“ so bleibt.
Kratzers „Rheingold“ an der Bayerischen Staatsoper nimmt kirchliche Motive auf
Das Wort „beten“ ist gefallen. Es hat viel mit Kratzers Inszenierung im hoch aufstrebenden Bühnenbild von Rainer Sellmaier zu tun: Die Burg, die Göttervater Wotan zu bauen in Auftrag gegeben hat, sie ist eine gotische Kathedrale ihm zu Ehren. Hier findet „Rheingold“ statt, vom Auftritt der Rheintöchter in der Vorhalle bis hin zu einer nie gesehenen, imposanten Schlussapotheose am Wandel-Altar. Hier übergeben die Riesen das fertige Bauwerk – und bitten als katholische Priester, Glaubensfunktionäre und Stellvertreter Wotans auf Erden im Kniefall um Lohn. Das ist schon hübsch frech: Zwei Kleriker, die sich – in Form der ansehnlichen Freia – erst um Weibes Wonne und Wert bemühen, sich dann aber, ähnlich wie zuvor Alberich, mit Gold, Tarnhelm und Macht zufrieden geben wollen.
Was ja bekanntlich Wotan in die Bredouille bringt. Nun hat er Gold und Ring als Ersatz für den eigentlich ausbedungenen Lohn herbeizuschaffen. Mit Feuergott Loge, der auffallend gerne zündelt, macht er sich auf den Weg. Und wieder – wie in seinem Bayreuther „Tannhäuser“ – sehen wir eine Art road trip der Zentralfigur als Video-Sequenz. Wotan und Loge an der Autobahn, in der Fußgängerzone, auf einer Parkbank die jugenderhaltenden letzten Äpfel mümmelnd, Airport, Flug, Ankunft in einer Millionenmetropole, bestimmt New York.
Kratzer versteht es, Wagners Pathos zu unterminieren
Dort haust inzwischen Alberich als obsessiver Tüftler in einer Start-Up-Garage. Über Bildschirme kontrolliert er sein Gold-Imperium. Schnellfeuerwaffen hängen an den Wänden, für die sich umgehend Wotan interessiert… Nur Loges geschicktem Manipulieren und Alberichs Eitelkeit hat er zu verdanken, dass er Alberich in Gestalt einer Kröte – und damit auch dem Ring – habhaft wird. Loge setzt noch ein paar Kirchen in Brand, dann Rückflug. Nur: Wie kriegt Wotan eine lebende Kröte – und eine Schnellfeuerwaffe – durch den Zoll? Und was macht der Schwarze neben Wotan für ein Gesicht, als er im Flieger gewahr wird, dass dieser alte, weiße Mann neben ihm eine Kröte in einer Apfelbox auf dem Schoß hält? Das sind wieder herrliche Szenen, über die herzhaft gelacht werden kann. Weil Kratzer es eben versteht, das Hehre und das Pathos von Wagner zu unterminieren – ohne es zu desavouieren. Weil er Mythos und wirkliche Gegenwart in Deckung bringt. Doch noch steht der Höhepunkt seiner szenischen Aufmüpfigkeit aus.
Nun kann Wotan also die Pfaffen in seiner neuen Kathedrale ausbezahlen. Um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen, knüpfen diese Freia auf – sodass Wotan immer wieder neues Gold unter ihre Füße nachschieben lassen muss, damit sie nicht erhängt wird. Wenn er aber von Erda ermahnt wird, letztlich auch vom Ring zu lassen, dann blicken wir auf eine visionäre Warnung: auf Brandherde in der Kathedrale, die Loge nur gar zu gern schon vollständig in Flammen aufgehen sehen würde.
Musikalisch beherrschen die Männer das Feld
Doch die Götterdämmerung ist noch weit weg; noch steht Wotan gut in Saft und Kraft. Genau dies zeigt das spektakuläre Schlussbild. Erst wird ein Glasfenster enthüllt, dann der gotische Hochaltar – in dessen Nischen schließlich die Götter eintreten: Fricka, Freia, Froh und Donner gleichsam als Heilige, in der Mitte Gottvater Wotan. Das gläubige Volk ist hingerissen; Loge aber überlegt, ob er nicht seine brennende Zigarette in Richtung Heiligtum wirft. Ende des „Ring“-Vorspiels.
Vorläufiges Ende auch von Kratzers Konzept, Alberichs Wissen um Sterblichkeit und Wotans Glauben an Unsterblichkeit gegenüber zu stellen. Bei Alberich haut das schon mal hin. Er versucht alles, um in seiner bemessenen Lebenszeit alles zu erreichen; bei Wotan muss noch gewartet werden…
Und die Musik? Sängersolistisch beherrschen Männer das Feld: Sean Panikkar als heller, geschmeidiger, diabolischer Loge, Nicholas Brownlee als ein bassbaritonal auf dem Höhepunkt von Macht stehender Wotan, Markus Brück als erst proletenhaft auftrumpfender, dann sich splitterfasernackt eindrucksvoll windender Alberich, Timo Riihonen als Fafner. Unter den Frauen gebührt Wiebke Lehmkuhl als strömend raunende Erda die Krone. Dass die Solisten insgesamt gute Figur abgaben, war aber auch Vladimir Jurowski und dem Staatsorchester zu verdanken, die über weite Strecken nahezu kammermusikalisch begleiteten, die Partitur ausbreiteten und zugunsten von Deutlichkeit und Transparenz zelebrierten. Ein wenig mehr Fundament und Schub wird im „Ring“-Fortgang nötig sein. Großer Jubel, wenig Kritik an der Regie.
Um kommentieren zu können, müssen Sie angemeldet sein.
Registrieren sie sichSie haben ein Konto? Hier anmelden