Aktuell ist sie der Stern am Himmel des Operngesangs, alle wollen sie sehen, und die Aufführung präsentiert gleich zu Beginn, was das Star-dürstende Herz begehrt. Asmik Grigorian erscheint auf dem noch geschlossenen Bühnenvorhang als filmische Projektion, wird zu den Klängen der Orchester-Introduktion herangezoomt, bis schließlich nur noch ihr Gesicht im riesigen Close-up zu sehen ist. Die litauische Sopranistin als Garbo des Opernkinoleinwand - die Neuinszenierung von Peter Tschaikowskys "Pique Dame" an der Bayerischen Staatsoper weiß schon, was sie ihrem Publikum schuldig ist. Noch mehrfach, bei Akt- und Szenenbildwechseln, ist Grigorian im Monumentalformat zu sehen. Zu hören allerdings nur in herkömmlicher Dimension, live auf der Bühne.
Grigorian ist Lisa, die weibliche Hauptfigur in diesem Drama. Zentrale Gestalt in "Pique Dame" ist jedoch Hermann, ein junger Außenseiter, der der fixen Idee verfallen ist, am Spieltisch reich zu werden und sich damit Anerkennung zu verschaffen. Als man ihm von der alten Gräfin erzählt, die das Geheimnis dreier unfehlbarer Spielkarten verwahrt, und Hermann sich in Lisa, die Enkelin der Gräfin, verliebt (und auf Gegenliebe trifft), scheint er seinem Ziel nahezukommen, wenn er der Gräfin das Karten-Geheimnis entlocken könnte.
Regisseur Benedict Andrews interessieren gesellschaftliche Machtstrukturen
Was Tschaikowsky ursprünglich in der spätzaristischen Sankt Petersburger Adels-Gesellschaft des 19. Jahrhunderts verortete, transponiert der australische Regisseur Benedict Andrews in der Münchner Neuinszenierung in neuere Zeit. Erklärtermaßen interessiert ihn weniger die Liebesgeschichte von Hermann und Lisa. Andrews hat die Freilegung gesellschaftlicher Machtstrukturen im Sinn, weshalb er die Handlung in zwielichtig-nihilistische Hinterzimmer-Milieus verlegt, wo viel Geld über Spieltische wandert und die männlichen Akteure ihre eigenen, manipulativen und gerne auch niederen Umgangsformen pflegen.
Film-Noir-inspiriert, ist das alles mit viel Schwarz und Dämmerlicht in Szene gesetzt in Spielhallen, Peepshows und auf nächtlichen Straßen (Bühne: Rufus Didwiszus; Licht: Jon Clark), meilenweit entfernt von jeglicher Belle-Époque-Romantik. Die treibt die Regie dem Stück gründlich aus. Nichts von Jungmädchen-Traulichkeit im Duett von Lisa und Polina. Auf der Nationaltheater-Bühne fahren aufgemotzte Muscle Cars durch die Bühnen-Nacht, denen Lisas Freundinnen entsteigen, schrill aufgedonnerte Gangsta-Chicks, in deren Kreis sich Lisa - die eigentlich einem dieser Hinterzimmer-Macker versprochen ist - bestens einfügt.
Hermanns traumatische Erfahrungen mit Militär
Kaum erwähnt werden muss, dass sich bei solcher Lesart Libretto, Musik und szenische Realisation des öfteren heftig aneinander reiben, aber darüber blickt die Inszenierung mit der "Was kümmert's mich?"-Nonchalance des Regietheaters hinweg. Und was beim besten Willen nicht passend zu machen ist, wird gestrichen: So geschieht's mit dem Schäferspiel im zweiten Akt. Es gibt aber auch kluge szenische Lösungen. Wenn zu Beginn der Chor der Kinder sein militärisches Exerzieren vollführt, fühlt sich Hermann sofort gepeinigt, und man versteht: Seine psychische Labilität rührt von traumatischen Erfahrungen her, wohl aus seiner Militärzeit, wo der Schwächere dem Stärkeren gnadenlos ausgeliefert ist.
Brandon Jovanovich ist dieser Hermann, der hier einen wahnhaft Getriebenen vorstellen muss. Die sängerische Entsprechung dazu scheint für den US-amerikanischen Tenor die vokale Kraftmeierei zu sein, Jovanovich stemmt jedenfalls markig die Töne, sobald es von der Mittellage weg in höhere Regionen geht. Dort gibt es Passagen, denen er schlichtweg nicht gewachsen ist, jedenfalls nicht am Premierenabend - für den finalen Ton in seinem Gewitter-Arioso muss er in die Kopfstimme ausweichen, statt ihn mit der Bruststimme präsentieren zu können.
"Pique Dame" ist in russischer Originalsprache gesungen
Sonst sind die Männerrollen dieser in russischer Originalsprache gesungenen "Pique Dame" bestens besetzt. Roman Burdenko gibt einen diabolischen Tomski, der dem nur zu empfänglichen Hermann die Sache mit den drei magischen Karten einflüstert, Boris Pinkhasovich darf als Jelezki, der mit Hermann in Konkurrenz um die Zuneigung Lisas steht, mit seiner samten-füllig intonierten Arie auf die Angebetete für einen der wenigen elegischen Augenblicke dieser Neuinszenierung sorgen.
Der wohl faszinierendste Moment der ganze Oper gehört der Gräfin, als sie sich in ihrem Schlafgemach jener fernen Zeit erinnert, als sie in Paris an den Spieltischen der mondänen Gesellschaft als die "Venus von Moskau" galt. Wie Violeta Urmana, sich mit kahlem Kopf im Spiegel betrachtend, diesen Rückblick changieren lässt zwischen Trauer und Dämonie, ist ein sängerdarstellerisches Kabinettstück. Die Regie nimmt der Wirkung dieser Szene viel, indem sie fünf weitere, stumme junge Gräfinnen herumtänzeln lässt, deren eine Hermann dann auch noch ertränkt, um an das Geheimnis der Karten zu kommen.
Und Asmik Grigorian? Ist auch der anspruchsvollen Partie der Lisa mühelos gewachsen, so homogen und leichten Schritts, wie sie die Register wechselt, so homogen, wie sie vom erzählend-verhaltenen Duktus aufblendet in den großen, bedeutungsvollen Ton. Und doch: Gestalterisch scheint ihr die Rolle doch nicht in dem Maße zu liegen wie andere, ihre Salome vorneweg; zu eindimensional geraten dann doch die kaum einmal lyrischen, sondern fast durchweg dramatischen Farben ihrer Lisa.
Eine Überraschung namens Aziz Shokhakimov
Aus dem Graben kommt die Überraschung dieser "Pique Dame". Dem jungen usbekischen Dirigenten Aziz Shokhakimov gelingt keineswegs alles, im Finaltrubel des dritten und letzten Akts hätte man sich doch manches im Orchester präziser gestaffelt gewünscht. Wie Shokhakimov aber bei seinem Staatsopern-Debüt treibende Tempi entfacht, Rhythmen reliefartig herausarbeitet und allgemein das Klangbild spannungsvoll raut, das rückt Tschaikowskys Oper aufregend nahe heran an den Aufbruch der Moderne um 1900.