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Nachruf: Zum Tod von Hans Magnus Enzensberger: Im Zickzack hat er Kurs gehalten

Nachruf

Zum Tod von Hans Magnus Enzensberger: Im Zickzack hat er Kurs gehalten

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    Der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger ist tot.
    Der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger ist tot. Foto: Andreas Gebert, dpa (Archivbild)

    Wenn die Zeitumstände schon so eine dramatische Hintergrundmusik aufführten wie in jenem Herbst 1929, als in New York am Schwarzen Freitag die Börsenkurse ins Bodenlose stürzten, dann konnte aus dem nur wenig später – am 11.11. – Geborenen doch gar nichts anderes werden als etwas Besonderes! Selbst wenn es sich mit dem Ort des Herkommens nicht ganz so aufregend verhielt wie mit der Zeit: Denn Hans Magnus Enzensberger erblickte nicht in Rom oder Paris – zwei seiner Lieblingsstädte – und schon gar nicht in New York das Licht der Welt, sondern in Kaufbeuren im Allgäu.

    TV-Talkrunden hat Enzensberger stets gemieden

    Das hat ihn nicht davon abgehalten, aufzusteigen zu einem der wirkungsmächtigsten Geistesarbeiter der Bundesrepublik Deutschland. Wobei diese Wirkung – heutzutage muss man das eigens betonen – sich nicht aus extensiver personaler Präsenz in den Medien herleitete. TV-Talkrunden hat er stets gemieden, auch um Interviews gerne einen Bogen gemacht, lieber ist er zwischendurch mal überraschend in einem Gymnasium aufgetaucht, um mit Schülern ein Palaver über Schriftstellerei abzuhalten. Daher einzig rührte seine eminente Wirkung her: aus einem großartig umfangreichen literarischen Schaffen. 

    Enzensbergers Themenspektrum reichte unfassbar weit

    Was die öffentliche Wahrnehmung anbelangt, so war es ganz besonders der Essayist Enzensberger, der mit seinen Einwürfen für Furore sorgte. Das begann früh, schon in den 50er Jahren, mit Analysen der „Bewusstseinsindustrie“, worin der junge Schriftsteller die sprachlichen Strategien von Medien wie dem Spiegel oder der FAZ kritisch durchleuchtete. Und frappierend häufig gelang es Enzensberger dabei, dem Zeitbefinden hellsichtig um mindestens eine Nasenlänge voraus zu sein. Das war so bei seinem Essay „Ach Europa!“, der 1987 erschien, lange bevor der Seufzer zum kontinentalen Mainstream wurde. Und war nicht anders bei einem Titel wie „Die große Migration“, der sich bereits zu Beginn der 90er Jahre mit den globalen Wanderungsbewegungen befasste, oder den zur selben Zeit erschienenen „Aussichten auf den Bürgerkrieg“, die vor einer Aufweichung der zivilisatorischen Errungenschaften warnten. Wie haltbar sich diese Themen erwiesen haben!
     

    Der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger am 28.05.1968 bei einer Veranstaltung gegen die Notstandsgesetzgebung im Großen Sendesaal des Hessischen Rundfunks in Frankfurt am Main.
    Der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger am 28.05.1968 bei einer Veranstaltung gegen die Notstandsgesetzgebung im Großen Sendesaal des Hessischen Rundfunks in Frankfurt am Main. Foto: Manfred Rehm, dpa (Archivbild)

    Das Themenspektrum, mit dem Enzensberger sich beschäftigte, war weit, für manche zu weit ausgreifend. Dass sich ein gesellschaftskritischer Kopf wie er auch in ausführlichen Überlegungen mit dem Verschwinden des Kursbuchs der Deutschen Bahn und ähnlich Nachrangigem beschäftigte, brachte ihm den Vorwurf des Eskapismus ein. Aber dieses Nicht-festgelegt-Sein gehörte für den Bewunderer Diderots und der französischen Enzyklopädisten zum geistigen Selbstverständnis, auch wenn er damit das intellektuelle Establishment gehörig irritierte. „Ich bin keiner von uns“, schrieb er distanzbewusst in einem seiner frühen Gedichte - das Abschmettern jeglichen Vereinnahmungsversuchs noch verstärkend durch Verwendung des Zugehörigkeitsworts „uns“ anstatt des erwartbaren „euch“. Und nicht ohne Grund gab er einem seiner Aufsatzbände den programmatischen Titel „Zickzack“. 

    "Verteidigung der Wölfe" hieß Enzensbergers erster Gedichtband

    Wo Enzensberger Vereinnahmung witterte, entzog er sich, durch literarische Sprunghaftigkeit oder auch, jedenfalls in seinen frühen Jahren, ganz konkret durch den Wechsel des Ortes. Nach Veröffentlichung seines ersten, in den Muff der Adenauer-Ära hineinstoßenden Gedichtbandes „Verteidigung der Wölfe“ (1957) entging er der schon aufgezogenen Schublade als „zorniger junger Dichter“ (Alfred Andersch), indem er für ein paar Jahre nach Norwegen entschwand. Später ging es für längere Aufenthalte nach Italien, in die USA und von dort, kontrastreicher ging’s damals kaum, direkt ins sozialistische Kuba. 

    Es war die Zeit, in der es überall in der Jugend des Westens zu gären begonnen hatte. Eine Zeit lang marschierte Enzensberger als Stichwortgeber mit an der Spitze der Revolutionsbewegten. Er gründete (zusammen mit Karl Markus Michel) das „Kursbuch“, eine ausgewiesen linke Intelligenzzeitschrift. Was aber nicht hieß, dass er seinen mäandernden Geist auf strammen Kurs zu bringen gedachte. „Kursbücher schreiben keine Richtungen vor, sie geben Verbindungen an“, lautete sein Credo. Nach ein paar Jährchen sagte er der Zeitschrift Adieu und tat auch sonst schon recht bald den außerparlamentarischen Protest als „Straßentheater“ ab.

    Dass Kursbücher es Enzensberger angetan hatten, als Zeitschriften-Titel ebenso wie als Eisenbahner-Druckerzeugnis, war dem Vater geschuldet. Der war eigentlich bei der Post beschäftigt und dort Spezialist fürs Fernmeldewesen. Schon bald mit seiner Frau und dem kleinen Hans Magnus von Kaufbeuren nach Nürnberg gezogen (wo noch drei weitere Söhne zur Welt kamen, zwei davon ebenfalls literarische Begabungen), studierte der Vater in seiner Freizeit Zugfahrpläne und arbeitete zum Vergnügen an einer Verbesserung des Verbindungsnetzes. Den Heranwachsenden hat das, wie er in späteren Jahren immer wieder kundtat, sehr beeindruckt, mehr jedenfalls als das völkische Gehabe der Machthaber im reichsbewegten Nürnberg. 

    Die Kriegszeit überstand Hans Magnus Enzensberger unbeschadet

    Die Kriegszeit überstand Hans Magnus unbeschadet, mit Mutter und Brüdern durfte er aus der bombengefährdeten Stadt ins ländliche Wassertrüdingen ausweichen. Abitur hat er nach dem Krieg in Nördlingen gemacht, auf den Gebrauch dieses Patents aber erst mal verzichtet und sich statt dessen auf den Schwarzmarkthandel verlegt. Offenbar mit Erfolg, denn des späteren Schriftstellers branchenbekannten Geschäftssinn hat Enzensberger selbst auf die Erfahrungen jener Zeit zurückgeführt. 

    Danach studierte er doch noch ein paar Semester, heuerte beim Süddeutschen Rundfunk an, fand bald Aufnahme in die Gruppe 47 und hielt schon nach Erscheinen seines zweiten Gedichtbands („Landessprache“) den Büchnerpreis in Händen. Eine Intellektuellenkarriere in Sieben-Meilen-Stiefeln, die so ganz im Gegensatz stand zur Erscheinung des Schriftstellers, der noch lange so aussah, als sei er gerade erst in die gymnasiale Oberstufe vorgerückt. 

    Enzensberg bewegte sich kosmopolitisch und polyglott durch die Genres

    Und doch passte dieses durchscheinende Äußere wie angegossen zum Selbstverständnis eines Autors, der sich, beneidenswert kosmopolitisch und polyglott, mit hoher Elastizität durch Räume und Zeiten und Themen und Genres bewegte. Denn der Essayschreiber bildete ja nur einen Teil der literarischen Existenz. Als Herausgeber hat Enzensberger, der seit Ende der 70er Jahre in München-Schwabing lebte, sich auch mit der Zeitschrift Transatlantik (1980) versucht, damit freilich einen Flopp gelandet – ganz im Gegensatz zur Buchreihe „Die Andere Bibliothek“, deren Programm er von der Gründung 1985 bis zum Jahr 2007 verantwortete und in der er unter anderem Autoren wie Christoph Ransmayr und W.G.Sebald zu beträchtlichen Erfolgen verhalf. Auch auf dem Theater hat Enzensberger seine Spuren hinterlassen, weniger mit eigenen Dramen als mit Bearbeitungen (u. a. Molière), Opernlibretti (für Hans Werner Henze und Wolfgang Rihm) sowie Übersetzungen. 

    Ähnlich verhält es sich mit der Prosa. Den großen Roman, das schillernde Zeitgemälde, hat er nie vorgelegt, wohl aber einige kleinere Arbeiten, gerne auch für jüngere Leser. Darunter „Der Zahlenteufel“ über einen Jungen namens Robert, der in seinem Träumen von der besagten Titelgestalt in die Welt der Mathematik eingeführt wird. Ein Buch, das seinem Verfasser, selbst ein begeisterter Zahlenknobler, Einladungen zu Mathematik-Kongressen eingetragen hat. 

    Das lyrische Talent des Hans Magnus Enzensberger war eindrucksvoll

    Unter all den literarischen Talenten dieses Mannes war das lyrische aber doch das eindrucksvollste. Allein schon, weil es sich über dieses ganze lange Leben erstreckte, durch sieben produktive Jahrzehnte hindurch. Viel von dem, was Enzensbergers intellektuellen Typus kennzeichnete, findet sich hier zur Sprache kondensiert. Das Leichtfüßige im Ton, das sich tiefen Sondierungen gleichwohl nicht verweigert. Die Abneigung gegenüber starren Regeln, die im Verzicht auf den reinen Reim und der Hinwendung zu rhythmisierter Prosa ihren Ausdruck finden. Ein besonderes Händchen hatte er auch dafür, mit eigenen wie mit Gedichten fremder Autoren für das Spielerische dieser Gattung zu werben, vorneweg in dem wunderbaren, unter dem Pseudonym Andreas Thalmayr verfassten Band „Das Wasserzeichen der Poesie“. Und natürlich mit dem im Jahr 2000 für die Stadt Landsberg geschaffenen Poesieautomaten, der heute im Deutschen Literaturarchiv in Marbach steht. 

    In „Rebus“ (2009), einem seiner späten Lyrikbände, hat der dreimal Verheiratete und Vater zweier Töchter sich in einem Gedicht sein eigenes Begräbnis zu imaginieren versucht. Und in der für ihn typischen heiteren Melancholie beklagt, wie schnell man nach dem Ableben doch verblasse für die Weiterlebenden, „verwaist wie die leeren Figuren im Kinderbuch“, das man geschenkt bekommen habe: „ein Umriss bloß, der darauf hofft – schön wär’s! –, dass jemand an einem öden Nachmittag, wenn es draußen regnet, ihn ausmalen könnte mit den Buntstiften der Erinnerung.“ Nur keine Sorge! – durch das Lesen solcher Lyrik wird sich der Umriss auch künftig wie von selbst mit Farbe füllen, möchte man Hans Magnus Enzensberger zurufen, der am 24. November 2022 im Alter von 93 Jahren in München gestorben ist.

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