Mal angenommen, Corona wäre nicht 2020, sondern 30 Jahre früher passiert, in einer Zeit, in der das World Wide Web zwar schon als Forschungsprojekt existierte, aber seine reale Existenz allenfalls Stoff für Science-Fiction-Romane oder -Filme lieferte – keiner hätte wohl von Dingen wie Homeoffice, gestreamten Geisterkonzerten oder der Reduzierung menschlicher Interaktion auf Online-Talks gesprochen, von der Bequemlichkeit, von zu Hause aus einzukaufen, einmal ganz zu schweigen. Spannender Gedanke, wie so eine Pandemie wohl damals verlaufen wäre. Mit Appellen an die Bevölkerung via TV, mehr Überwachung, mit Heimlichkeiten, mehr Gelassen- oder Hilflosigkeit? Heute brauchen wir im Prinzip die Gemeinschaft gar nicht mehr. Dank einer vernetzten, digitalisierten Welt lässt sich theoretisch (und immer häufiger auch praktisch) alles erledigen, ohne vor die Tür zu gehen. Selbst ein Museumsbesuch.
Kultur unter Corona: Die Pandemie zwang Museen zu digitalen Lösungen
Die altbekannten Parameter: Eine Ausstellung findet immer an einem bestimmten Ort statt, den man auf irgendeine Weise erreichen muss. Während der diversen Lockdowns war dies jedoch für einen längeren Zeitraum nicht mehr möglich. Da Not bekanntlich den Erfindergeist weckt, ersonnen die Macher den digitalen Rundgang. Zunächst nur als Übergangslösung gedacht, ist diese Variante für nicht wenige Häuser im Verbreitungsgebiet unserer Zeitung zum festen Instrumentarium geworden, um neue Zielgruppen zu erschließen. Zwar gibt es noch keinen uneingeschränkten Konsens über Nutzen und Risiken virtueller Ausstellungen, aber nicht wenige Betreiber wollen weiterhin auf die Online-Karte setzen, selbst nachdem der reguläre Betrieb allmählich wieder zum Normalfall geworden ist.
Eines eint sie alle: die Enttäuschung darüber, wie Museen, Kunsthäuser und Ausstellungen zunächst nur zugesperrt und vergessen wurden, ohne über die Spätfolgen für die Menschen wie für die Betreiber nachzudenken. Ausstellungen, die mühevoll vorbereitet und fulminant eröffnet wurden, musste jäh schließen, die plötzliche Untätigkeit fraß ein Motivationsloch in die Gemüter der Mitarbeiter.
Das Museum für Konkrete Kunst in Ingolstadt baut auf das Digitale
Theres Rohde, die Direktorin des Museums für Konkrete Kunst in Ingolstadt, und ihr Team suchten zu Beginn der Pandemie nach Möglichkeiten, nicht in Vergessenheit zu geraten, vor allem weil der Stillstand mitten in die heiße Phase des 25 Millionen Euro teuren Umbaus der historischen Gießereihalle auf dem Gelände der ehemaligen Königlich Bayerischen Geschützgießerei fiel. Der damals eingeführte Digitalbetrieb erwies sich für Rohde als langfristiger Segen: „Wir machen das auf jeden Fall weiter, etwa in Form digitaler Talks. Ich kann doch nicht erwarten, dass jeder, der an konkreter Kunst Interesse zeigt, automatisch nach Ingolstadt fährt. Auf diese Weise gewinnen wir Publikum aus Berlin, aus Zürich und der ganzen Welt.“
Wahrscheinlich wären die Ingolstädter vorher nie auf den Gedanken gekommen, auf diese Weise ihre Klientel zu vergrößern. Deshalb freuen sie sich über den unverhofften Mehrwert, auch weil inzwischen wieder leibhaftige Menschen das Haus an der Tränktorstraße unweit der Donau ansteuern. Sowohl was die Vernissagen wie auch die Zahl der regulären Besuche anbelangt, spricht die Museumsdirektorin inzwischen von "einer Rückkehr zur Normalität". Der November und der Dezember seien wieder auf dem Niveau vor der Pandemie gewesen. Derzeit laufen die Ausstellungen „Reflections/Spiegelwelten“ und „Ungeahnt mondän“ mit Werken von Erich Buchholz (1891–1972).
Auch die Galerie Noah in Augsburg spürte die Auswirkungen der Pandemie
Grund zum Optimismus und Zeit, durchzuatmen, bevor 2024 binnen weniger Monate der Umzug über die Bühne gebracht werden muss. Da türmt sich angesichts der explodierenden Energiekosten schon das nächste Problem auf. Schon jetzt falle die Beleuchtung der Außenskulpturen weg. Im Neubau, der die Museumsfläche auf 2000 Quadratmeter verfünffacht, gebe es später eine Klimaanlage, was bisher nicht der Fall sei. Für die Direktorin geht es dabei nicht um die Frage, ob es im neuen MKK schön warm oder frostig kalt sein müsse, sondern dass dort stabile Temperaturen für die Bilder herrschten. Große Schwankungen würden die Kunstwerke nämlich nachhaltig beschädigen. Das sei ein sehr komplexes Thema, „bei dem man nicht mal eben die Heizung runterdrehen kann“.
Auch beim Kunstmuseum Walter im Augsburger Glaspalast trafen die Auswirkungen des Lockdowns vor allem die Galerie Noah: keine Besuche, keine Umsätze. „Schrecklich für einen privaten Träger“, findet Leiterin Wilma Sedelmeier. Im Frühjahr 2020 ließ das Museum einen virtuellen Rundgang entwickeln, sehr kostspielig zwar, „aber es hat sich letztlich gerechnet. Wir konnten zum einen Besucherzahlen akquirieren und außerdem lief der Verkauf weiter. Im ersten Jahr sogar erstaunlicherweise besser als zuvor. Vielleicht wollten die Leute ja hier ihr Geld ausgeben, weil alles andere geschlossen hatte.“
Die Kunsthalle Weishaupt stellt sich auf die digitale Zukunft ein
Der Schwerpunkt verlagerte sich immer mehr auf den digitalen Bereich, "obwohl wir das alles ursprünglich nicht im Sinn hatten", sagt Sedelmeier. "Denn Kunst kann man eigentlich auf diese Art nicht wirklich erfahren, erfassen und erfühlen." Nun, nachdem die Besucherzahlen wieder langsam auf Vor-Corona-Niveau klettern, soll Schluss sein mit den Online-Experimenten. Sedelmeier möchte das Digitale in diesem Jahr zurückfahren, "denn eine Ausstellung für reale und virtuelle Besucher aufzubauen, das kann eigentlich nicht wirklich funktionieren". Einen Testlauf gibt es ab 20. Januar mit einer Werkschau des Künstlers Heiner Meyer.
Ist die digitale Variante eine Option für die Zukunft? "Ja!", sagt Luisa Schneider, Pressesprecherin der Kunsthalle Weishaupt in Ulm. "Corona hat uns den Anstoß gegeben, uns digital aufzustellen." Das würde den regulären Museumsbetrieb einfach um eine wichtige Facette erweitern. Wobei für die aktuelle Ausstellung "Reine Formsache. Konstruktiv-konkrete Kunst aus der Sammlung" interessanterweise wieder auf Online-Angebot verzichtet wurde, weil konkrete Kunst eben konkret erfahren werden soll. Nun ja … Andere Angebote, so Schneider, würden wiederum regional weniger Resonanz hervorrufen, fänden aber in entlegeneren Winkeln der Republik durchaus Interessenten.
Das Kunsthaus Kaufbeuren zweifelt am Nutzen digitaler Angebote
Jan T. Wilms, Direktor des Kunsthauses Kaufbeuren, dagegen ist ein strikter Gegner der digitalen Museumsvisite. Kaufbeuren testete zwar Online-Führungen, "aber das war eher ein kläglicher Ersatz. Wer etwas anderes behauptet, der färbt die Dinge schön", betont Wilms. "Denn Kunstwerke sollte man immer im Original in Augenschein nehmen, in ihrer tatsächlichen Größe und mit dem menschlichen Maßstab in Verbindung. Es ist etwas anderes, wenn man alleine zu Hause am Rechner sitzt und sich irgendwelche 3D-Bilder zu Gemüte führt.“ Die Besucherzahlen hätten einige Zeit gebraucht, um sich wieder zu stabilisieren. Im Augenblick sei das Kunsthaus zwar noch nicht ganz auf dem alten Stand, aber auf einem guten Weg dorthin. Die Menschen hätten sich Kultur während Corona auch ein bisschen abgewöhnt, glaubt Wilms. Nun sei es eben die zentrale Aufgabe der Betreiber, wieder die Lust daran zu wecken. Am 27. Januar wollen der Direktor und sein Team mit der Ausstellung „Nippon Mania“ anfangen, die Saat neu auszubringen.