Als der Schriftsteller Arno Schmidt (1914 - 1979) im Januar 1951 den Großen Akademiepreis in Mainz erhält, erregt nicht nur seine Literatur Aufsehen. In einem schicken grauen Jackett mit Glencheckmuster, dem Stil des Herzogs von Windsor nachempfunden, tritt er auf, dem Anlass entsprechend. Befremdlich jedoch: Der junge Mann trägt unter der Jacke kein Hemd, und um dies zu verbergen, hält er Revers und hochgestellten Kragen des feinen Kleidungsstückes mit der Hand zusammen. Pure Not oder eine Attitüde? Beides ist denkbar, überliefert ist es nicht. Das Sakko aber, das der spätere Star der westdeutschen Nachkriegsliteratur damals trug, ist noch erhalten. Zu sehen ist es derzeit im Staatlichen Industrie- und Textilmuseum (tim) in Augsburg in der Ausstellung "Kleider. Geschichten – Der textile Nachlass von Arno und Alice Schmidt".
Arno und Alice Schmidts textiler Nachlass ist ein Spiegelbild für die Gesellschaft der jungen Bundesrepublik
Wie würde es raunen, flüstern und bestimmt auch kichern im Schrank, hätten Kleidungsstücke eine Stimme. Von ihren Trägern erzählen können sie aber auch ohne sie – und von der Zeit, in der sie getragen wurden. Und so verrät die rund 1000 Kleidungsstücke umfassende Sammlung der Arno-Schmidt-Stiftung nicht nur einiges über den Schriftsteller und sein Frau Alice, sondern auch über das Alltagsleben in der Nachkriegszeit und der jungen Bundesrepublik. Ist sie Spiegelbild für eine Gesellschaft, die zunächst von der Sorge um die reine Existenz getrieben ist und in späteren Jahren, befördert durch das Wirtschaftswunder, einen bescheidenen Wohlstand erfährt?
In biografischen Stationen zeichnet die Ausstellung, die in Zusammenarbeit mit dem Bomann-Museum Celle entstand, den Weg des Ehepaars Schmidt nach: Die ersten Ehejahre im schlesischen Greiffenberg, wo sich die beiden während der Arbeit in einer Textilfabrik kennengelernt hatten; Krieg, Flucht und Ankommen in Westdeutschland, wo sie sich schließlich 1958 in Bargfeld bei Celle niederließen. Exemplarisch steht ihr Leben für das vieler Flüchtlinge, denen wenig geblieben ist, die sich um die bloße Existenz – Unterkunft Nahrung, Kleidung – sorgen müssen Was sie haben, wird gepflegt, ausgebessert und umgearbeitet, wie der Militärmantel Arno Schmidts aus Kriegszeiten, den Alice schwarz einfärbt, selbst noch trägt und schließlich um die Gartenpumpe wickelt, damit diese nicht einfriert.
Ausstellung "Kleider. Geschichten." im Textilmuseum: Ein Morgenmantel aus Wolldeckenstoff
Neue Kleidungsstücke werden aus Gebrauchsstoffen gefertigt. Auf einen gewissen Schick wird dennoch Wert gelegt. Einen Morgenmantel aus einer grauen Wolldecke, dessen Schnitt Alice Schmidt in einer Zeitschrift für amerikanische Offiziere entdeckt haben könnte, unterfüttert sie mit einem seidig wirkenden Baumwollstoff, die beiden dekorativen Knöpfe des Kleidungsstückes bezieht sie mit Stoff.
Wohl dem, der in dieser Zeit der Not eine Schwester hat, die nach Amerika emigriert ist, denn die kann die begehrten Care-Pakete schicken, mit Kaffee, mit Lebensmitteln und anderen notwenigen Gebrauchsartikeln wie Kleidungsstücken. Jahrelang erhielten die Schmidts Postsendungen aus New York von Arnos Schwester Lucy Kiesler. Jenes Glencheck-Sakko von der Preisverleihung fand sich darin, aber auch bunt bedruckte Seidenkrawatten, die dann zum Großteil auf dem Schwarzmarkt landeten. Bis weit in die 50er-Jahre hinein bestritten Arno und Alice Schmidt ihren Lebensunterhalt weniger mit den Honoraren für die Texte des Literaten als mit Geschäften dieser Art. Und wer benötigt in solcher Zeit schon Seidenkrawatten, noch dazu als notorischer Krawattenverweigerer, wie es Schmidt einer war! Neben dem Tauschgeschäft ließ sich dies aber auch literarisch verwerten: Leser seiner Bücher wissen, wie konsterniert der Protagonist seines Romans "Brand's Haide" auf ein Paket aus Amerika mit vier Seidenkrawatten reagiert.
In den 1960er-Jahren bestellen Arno und Alice Schmidt aus Versandhauskatalogen
In den späten 50er- und 60er-Jahren, als bescheidener Wohlstand im Hause Schmidt einzieht, wird die Kleidung nobler. Protzen will man damit aber nicht. Aus dem stahlblauen Mantel, den Alice Schmidt für 225 DM 1955 bei Kaufhof erwirbt, trennt sie das Etikett heraus und gibt ihn als Kleiderspende der amerikanischen Verwandtschaft aus. In den 60er-Jahren bestellen die Schmidts dann, wie so viele Menschen, die in ländlicheren Gegenden leben, ihre Kleidung aus Versandhauskatalogen. Neckermann, Quelle und Co. werden zu reichen Fundgruben nicht nur für die eigene Garderobe, sondern auch für die literarischen Welt Arno Schmidts. Der Schriftsteller, der in seinen Romanen zum poetischen Chronisten bundesrepublikanischen Alltags wird, sammelt in Ringmappen die Abbildungen der Kataloge und entnimmt ihnen Anregungen für die Kleidung seiner Romanfiguren.
Und so kommen in dieser Ausstellung Text und Textilien auf wunderbare Weise zusammen. Denn nicht nur detailreiche Schilderungen des Kleidungsstils seiner Figuren finden sich in seinen Büchern. Wie ein roter Faden durchziehen das Werk Schmidts, der in seiner schlesischen Heimat eine kaufmännische Lehre in einer Textilfabrik absolviert hatte, Bilder, die in Zusammenhang mit Stoffen und Kleidung stehen. Vor allem Naturerscheinungen kleidet Arno Schmidt, der Meister der Metapher, in textile Sprachbilder: Vom "Nachthimmel aus LUREX. Häuser gedeckt mit Mondschein", schrieb er und "Der Morgen trägt rosa Bänder zum guten Blauen" bei ihm.
Der Publizist Jan Philipp Reemtsma war ein großer Förderer von Arno Schmidt
Über sechs Jahrzehnte verwahrten Arno und Alice Schmidt ihre gesamte Kleidung pfleglich und sorgsam. Auch das ein Spiegelbild für jene Generation von Bundesbürgern, die die Erfahrung von Flucht und Vertreibung hinter sich hatte. Was man besaß, wollte man bewahren, schließlich hatte man schon einmal alles verloren. Durch die Gründung der Arno-Schmidt-Stiftung 1986 durch die Witwe Alice Schmidt und den Literaturwissenschaftler und Publizisten Jan Philipp Reemtsma, einen großen Förderer des Schriftstellers, konnte die einzigartige Sammlung von Kleidungsstücken so vollständig erhalten und katalogisiert werden. Und kann nun dazu beitragen, dass mancher Ausstellungsbesucher sich angelockt fühlt, auch im als eher unzugänglich geltenden Werk des Autors zu lesen und darin herrliche Sätze wie "sie lief schlenkrig verfolgt von ihren Kleidern, grillenschlank" zu finden.
Info: Laufzeit bis 13. Oktober im Staatlichen Textil- und Industriemuseum Augsburg; geöffnet Dienstag bis Sonntag von 9 bis 18 Uhr. Zur Ausstellung gibt es ein Veranstaltungsprogramm mit Lesungen, Workshops und unterschiedlichen Themenführungen, näheres dazu unter www.timbayern.de