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Augsburg: Eine Lesung im Gaswerk bringt den Missbrauch in der Kirche ins Bühnenlicht

Augsburg

Eine Lesung im Gaswerk bringt den Missbrauch in der Kirche ins Bühnenlicht

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    Sie lasen Ausschnitte aus einer Missbrauchs-Studie, Erzdiözese München-Freising: (von links) Pascal Riedel, Gerald Fiedler, Paul Langemann, Katja Sieder, Andrej Kaminsky und Natalie Hünig.
    Sie lasen Ausschnitte aus einer Missbrauchs-Studie, Erzdiözese München-Freising: (von links) Pascal Riedel, Gerald Fiedler, Paul Langemann, Katja Sieder, Andrej Kaminsky und Natalie Hünig. Foto: Veronika Lintner

    "Ich war gerne Ministrant", sagt Richard Kick. Aber die Erinnerung an prächtige Gottesdienste, Gemeinschaft und schöne Feste, sie scheint fast bedeutungslos, wenn der Mann seine Schmerzen offenlegt: Als er acht Jahre alt war, habe ihn zum ersten Mal ein katholischer Geistlicher missbraucht. Täter sei der Kaplan gewesen, der im Elternhaus immer sehr willkommen war, als Gast zur Kartenrunde. Kick trägt die Verletzungen, die er als Kind über Jahre erlitt, bis heute mit sich. Auch nach drei Therapien. Noch immer plage ihn das Gefühl, dass für die Amtskirche nicht Opfer-, sondern Täterschutz das Wichtigste sei.

    "Das macht hilflos, ratlos, aber nicht tatenlos", sagt Kick. Im "unabhängigen Betroffenenbeirat der Erzdiözese München und Freising" setzt er sich für Aufklärung in Hunderten ähnlichen Fällen ein. Aus seiner Sicht liegen auch alle Fakten auf dem Tisch, was die Erzdiözese

    Im Augsburger Gaswerk wird der Missbrauch zum Thema

    Ins gedimmte Licht der Brechtbühne hat das Staatstheater zwei Tische gestellt und packt darauf vier pralle Aktenordner. Die gesamte Studie füllt die vier Hefter, 1893 Seiten hat das Staatstheater ausgedruckt. Der Titel des Dokuments: "Sexueller Missbrauch Minderjähriger und erwachsener Schutzbefohlener durch Kleriker sowie hauptamtliche Bedienstete im Bereich der Erzdiözese München und Freising von 1945 bis 2019". Fast 75 Jahre Missbrauchsgeschichte – das ergibt eine Wucht an Zeugnissen, die Münchner Anwälte um Ulrich Wastl hier aufrollen.

    Viele Opfer in der Diözese München-Freising waren acht bis 14 Jahre

    Die Lesung verzichtet dabei auf jede Spur von Dramatisierung. Sechs Schauspieler und Schauspielerinnen halten eine nüchterne Wasserglas-

    Die Anwälte gehen von erdrückenden Zahlen aus: 497 Opfer und 235 mutmaßliche Täter sexuellen Missbrauchs, in acht Jahrzehnten. Unter den Geschädigten sei die Gruppe der 8- bis 14-jährigen "deutlich überrepräsentiert". Kindesmissbrauch also. Und offen bleibt, wie groß das Dunkelfeld ist.

    Konkrete Fälle machen den Missbrauch greifbar

    Vier von Hunderten Fallbeispielen breitet die Lesung aus, darunter Nummer 26: Anfang der 60er versetzt die Erzdiözese einen Priester, weil Missbrauchsvorwürfe um ihn die Runde machen. Und tatsächlich, ein Gericht erteilt ihm bald eine Haftstrafe von fünf Jahren, wegen "Verbrechen der fortgesetzten Unzucht". Will heißen: Missbrauch, immer wieder, an Kindern ab zehn Jahren. Einem einzelnen Opfer habe er 50 Übergriffe angetan, teils im Messgewand in der Sakristei.

    Das Gesetz greift also ein und der Täter scheint sogar bereit, seinen Beruf aufzugeben. Bis höhere Kirchenvertreter auf ihn zukommen: Generalvikar Defregger habe ihm gut zugeredet, Kardinal Wetter verleiht ihm später den Status "Pfarrer". Gerade als der Mann als Krankenhauspfarrer einen neuen Platz im Schutz der Kirche gefunden hat, Anfang der 2000er, kommt neuer Verdacht auf. Die Krankenhausministranten habe er in seine Privatsauna eingeladen.

    Auch Marx und Ratzinger rücken in den Fokus

    Diese Lesung schockiert vor allem, weil sie einen Verdacht hör- und spürbar macht: Die Kirche habe mit Bürokratie brutale Fälle abgeblockt, statt sie aufzuklären. Mutmaßliche Täter hob die Kirche nicht aus ihrem Amt, sondern auf andere Posten. Auf dem Postweg zum Vatikan, zur Glaubenskongregation, blieben wichtige Briefe ungeöffnet in deutschen Kirchen-Schubladen liegen. Die Studie zitiert Personalreferenten, Sachbearbeiter, Heimleiter, die von Fällen wussten, und auch auf große Namen fallen Schatten: Münchens Kardinal Reinhard Marx wirft die Studie Versäumnisse vor, ebenso Joseph Ratzinger, als Ex-Erzbischof von München und Freising.

    Das Gutachten gibt am Ende Empfehlungen: Die Kirche müsse noch stärker auf die Opfer eingehen, eine "unabhängige Ombudsstelle" schaffen. Seit 2010 sehe man zwar in der Präventionsarbeit Fortschritte – aber die Aufklärung und die Seelsorge für Opfer komme noch viel zu kurz.

    Eine Debatte zum Missbrauch in der katholischen Kirche

    Die Dramaturgin Sabeth Braun hat diese intensive Lesung organisiert und leitet mit Intendant André Bücker die Bühnendiskussion im Anschluss. Der "Münchner Betroffenenbeirat" hat sich 2021 gegründet, als "Ohr und Stimme für die Betroffenen", erklärt Kick. Doch er kritisiert, dass sich immer noch nichts Entscheidendes am System der Kirche geändert habe. Zwölf Jahre nach 2010, als zahlreiche Missbrauchsfälle ans Tageslicht kamen, "stehen wir eigentlich immer noch am Anfang".

    Daniel Wirsching befasst sich als Redakteur der Augsburger Allgemeinen intensiv mit Kirchen-und Glaubensfragen. Er beobachtet: "Die Kirche ist im Kern getroffen. Viele sagen: Ich lasse mein Kind jetzt nicht mehr taufen." Zur Aufklärung würde sich Wirsching ein gründliches Missbrauchs-Gutachten auch für die Diözese Augsburg wünschen.

    Nach der Lesung diskutierten sie: Schauspieldramaturgin Sabeth Braun, Daniel Wirsching von der Augsburger Allgemeinen, Landtagsab, Simone Strohmayr (stellvertretende Vorsitzende und parlamentarische Geschäftsführerin der SPD-Landtagsfraktion Bayern), Richard Kick vom Betroffenenbeirat München und Staatstheater-Intendant André Bücker.
    Nach der Lesung diskutierten sie: Schauspieldramaturgin Sabeth Braun, Daniel Wirsching von der Augsburger Allgemeinen, Landtagsab, Simone Strohmayr (stellvertretende Vorsitzende und parlamentarische Geschäftsführerin der SPD-Landtagsfraktion Bayern), Richard Kick vom Betroffenenbeirat München und Staatstheater-Intendant André Bücker. Foto: Veronika Lintner

    Simone Strohmayr, parlamentarische Geschäftsführerin der SPD-Landtagsfraktion Bayern, zeigt sich nach der Lesung "zutiefst erschüttert" und stellt sich Kicks kritischen Fragen an die Politik. "Ich glaube nicht, dass die Kirche die Aufarbeitung selbst übernehmen kann", sagt Strohmayr und plädiert für ein unabhängiges Kontrollgremium, dass dem Parlament regelmäßig berichte.

    In die Selbstkritik der katholischen Kirche steigt Pfarrer Bernd Weidner ein, er leitet die Pfarreiengemeinschaft Augsburg-Oberhausen und Bärenkeller. "Wir haben ein monarchistisches System in der Kirche", stellt er fest und moniert ein "höfisches Verhalten" der Bischöfe und Kardinäle. Der Knackpunkt aus seiner Sicht: "Wie geht man mit dem Thema Macht um? Werden Bischöfe bereit sein, Macht abzugeben?" Kick ist inzwischen aus der Kirche ausgetreten und appelliert trotzdem an die Gemeinschaft: "Jeder in der Kirche, auch jeder Priester kann etwas tun."

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