Eine traumhafte Vorstellung: Ferien auf einer Insel, auf der noch dazu die Oma lebt. Eine Oma, die man noch nie zuvor gesehen hat. Für Dagny ist es eine verlockende Vorstellung, hoch im Norden Urlaub zu machen. Dass gerade keine Ferien sind, dass ihre Eltern vorher nie eine überschäumende Begeisterung für einen Besuch bei „Oma Insel“ hegten – das alles wundert das Mädchen zwar, doch Dagnys Neugier ist größer als ihre Skepsis. Eine Haltung, die sich bald als fatal herausstellen wird.
Wer schon einmal auf Island war, der weiß, dass Inseln im Norden ihren Charme haben, aber auch hart sein können gegenüber Bewohnern und Besuchern. Nun beschreiben Arndís Thóransdóttir und Hulda Sigrún Bjarnadóttir zwar nicht explizit Island, aber eben doch ein „Insel-Biest“, das vieles an Zumutungen mit dem kleinen Land gemein hat. Dagny und ihrem Bruder Ingo wird allerdings erst nach einigen Tagen klar, dass ihre Eltern ihnen jahrelang einiges verschwiegen haben. Es beginnt damit, dass auf der Insel alle in ein und demselben Haus leben, in dem ihre Oma Berit Hausmeisterin ist.
Ein Buch, zwei Autorinnen und ein Bündel guter Ideen
Die Autorinnen, die jeweils schon andere Kinder- und Jugendbücher geschrieben haben, haben sich für „12 Stockwerke: Mein unglaubliches Zuhause am Ende der Welt“ erstmals zusammengetan. Was ihre Fantasie betrifft, eine grandiose Entscheidung, denn die Geschichte von Dagny und der Insel ohne Namen sprüht vor Ideen, die skurril und amüsant sind: ein Kuhstall und ein riesiges Kartoffellager im Keller, eine Energiezentrale auf dem Dach, eine Hausgemeinschaft, in der jeder eine Aufgabe hat, das strenge Regiment der Hausmeisterin und Lammzucht als Schulfach – so etwas hat man auf dem Festland nie gehört. Gleichzeitig tippen die Autorinnen viele Themen an, die junge Menschen im Globalen Norden heute beschäftigen: Wie wäre es, ohne Handy, zumindest aber ohne WLAN auszukommen? Wie fühlt es sich an, wenn nicht alle Waren rund um die Uhr erhältlich sind? Was bedeutet es, für seinen Strom, sein Essen, ja für alle notwendigen Dinge des täglichen Lebens selbst Hand anlegen zu müssen? Und wird es gelingen, den Klimawandel zu stoppen?
Auf der Insel beschäftigen sich Oma Berit und die Bewohner täglich zumindest mit der letzten Frage: Das Wetter auf ihrem Eiland ist im Winter so unwägbar, dass keine Fähre vom Festland mehr anlegen kann, ja, dass man an manchen Tagen nicht einmal das Haus verlassen darf, weil sonst die Gefahr besteht, vom Sturm hinweggefegt zu werden. Ob den Menschen die Zusammenhänge bewusst sind, die weltweit zu Klimaveränderungen führen, lassen die Autorinnen offen. Für Dagny und ihren Bruder Ingo aber ist die Sache klar: Alle hier sind rückständig, sie kennen weder Netflix noch YouTube und scheinen auch sonst in einem anderen Jahrhundert stecken geblieben zu sein. Kein Wunder, dass die Teenager wegwollen.
Auf der Insel ist die neue Familie nicht willkommen
Doch da sind noch ihre Eltern: Dagnys und Ingos Vater ist der Sohn von Oma Berit, er hat die Insel als Jugendlicher verlassen und war nie zurückgekehrt. Sein Verhältnis zu seiner Mutter ist angespannt, was sich auf den Rest der Familie auswirkt. Keiner der vier – inklusive Dagnys Hund Zorro – ist willkommen. Während Ingo sich zurückzieht und die meiste Zeit in einer selbst gebauten Hütte verbringt, versucht Dagny, sich ihren Platz in der Hausgemeinschaft zu erarbeiten. Doch bis auf Leo scheint keines der Kinder Interesse an ihr zu haben. Das ändert sich, als sich größere und kleinere Katastrophen ereignen: Erst verschwinden Haushaltsgeräte, später taucht ein Kuhfladen vor der Wohnung des Zahn- und Tierarztes auf, und schließlich wird die Wohnungstür der Küchenchefin mit Blut beschmiert. Dagnys Neugier ist geweckt – und wird sie in schwierige Situationen bringen.
„12 Stockwerke: Mein unglaubliches Zuhause am Ende der Welt“ ist ein kurzweiliges und humorvolles Buch, das viele Fragen unserer Zeit anschneidet und zum Nachdenken anregt, ohne dabei den Zeigefinger zu erheben.
Arndís Thórarinsdóttir, Hulda Sigrún Bjarnadóttir: 12 Stockwerk. Mein unglaubliches Zuhause am Ende der Welt. Übersetzung von Gisa Marehn, Arena, 336 Seiten, 16 Euro, – ab 10