Mittagsstunde. Heilige Ruhe. Da wissen die Kinder in Brinkebüll, was zu tun ist. Wenig, und das aber so leise wie möglich, damit die Eltern und Großeltern bei ihrer nordfriesischen Siesta nicht gestört werden. Zum Beispiel Schuhe ausziehen, durch die Diele schleichen, rauf zum Heuboden zu den versteckten Comic-Heften. Oder sich an die Bücher setzen, endlich ungestört lesen, wie es zumindest die kleine Boysen macht. Die überschaubare Schulbibliothek hat die Bäckerstochter durch. Aber die Bildung fährt zum Glück für sie alle zwei Wochen mitten durchs Dorf, kündigt sich durch eine schrille Sirene an, ausgerechnet zur Mittagsstunde. Dann steht Gönke Boysen mit der Schubkarre bereit, holt sich Nahrung aus dem Bücherbus.
Gönke, eine Nebenfigur im Roman „Mittagsstunde“, ist eine, die das Dorf verlassen, die der Bildung nachziehen wird. So eilig wie es auch die Schriftstellerin Dörte Hansen, heute 54, als junge Frau damals hatte. Nach dem Abitur gleich weg zum Studium der Soziolinguistik nach Kiel, dann zur Promotion nach Hamburg, dort als Journalistin gearbeitet, bis es sie doch wieder hinaus aus der Stadt zog. Und dann ganz zurück nach Hause. Ins nordfriesische Altmoränenland.
Man sehnt die nächste freie Stunde zum Lesen herbei
Und dort, im alten Zuhause also, spielt der neue Roman von Dörte Hansen. Ihr Debüt „Altes Land“ war ein grandioser Erfolg, das meistverkaufte Buch im Jahr 2015, Liebling der Buchhändler. Und gab Hansen mit Anfang 50 die Freiheit, sich „ohne Existenzangst“ dort zum Schreiben niederzulassen, wo sie wollte. In ihrem Fall eben in einem der Dörfer auf der Geest, im Roman verwandelt ins fiktive Brinkebüll, dessen Geschichte, der letzten 50 Jahre sie erzählt. So klug, bewegend, komisch, liebenswürdig, unterhaltend und gut, dass man sich die nächste Mittags- oder Abendstunde zum Lesen herbeisehnt.
Kostprobe: „Ingwer sah ihn mit den Kopfhörern auf seinem alten Lederstuhl, vollkommen reglos, nur die rechte Hand bewegte sich im Takt, er tippte mit den Fingerspitzen auf den Schreibtisch, auf dem Plattenteller drehte sich ,Die große Marschparade‘. Er saß da wie ein alter U-Boot-Funker, der immer weiter sendete…“
Ingwer, das ist der Hochschullehrer für Prähistorie, knapp vor der 50, ledig, der Enkel, der es auch nicht ausgehalten hat im Dorf. Der den Gasthof als junger Mann verlassen hat, das Erbe ausgeschlagen, gegen eine Dreier-WG in Kiel eingetauscht hat. Und der sich nun ein Sabbatical genommen hat, um sich um die alten Großeltern zu kümmern: Um Edda, am Abdriften in die Demenz, und um Sönke, den alten Gastwirt, der im Lehnstuhl zur Marschmusik mit den Fingern tippt. „Wat maakst du, wenn din Bummel-Johr vörbi is, un wi denn immer noch nich doot sind?“, fragt der Großvater den Enkel. Der zuckt mit den Achseln und antwortet. „Dat weet ik nich. Denn mutt ik jem wull dootscheten, oder? Nütz je nix.“ Und da lacht der alte Gastwirt, lässt sich regelrecht durchschütteln bei der Vorstellung, wie sein Enkelsohn ihn, den alten Feddersen, um die Ecke bringt.
Die Liebesgeschichte zwischen Enkel und Großvater ist vielleicht die schönste, die es in diesem Herbst zu lesen gab. Zärtlich, knochentrocken. Sie steckt im Zentrum des Romans, hält ihn wie Kitt, während Dörte Hansen all die anderen Geschichten außen herum wehen lässt und vom Verschwinden des bäuerlichen Dorflebens erzählt. Da gibt es Dora, Ladenbesitzerin, die erst dann Schokoladeneis nachkauft, wenn auch das Erdbeereis gegessen ist. Als der erste Discounter in der Nähe eröffnet, fährt sie ihren untreuen Kundinnen hinterher, parkt neben ihnen und schmettert den auf frischer Tat Ertappten ein scharfes „Moin“ entgegen. Dorfschullehrer Steensen versucht den kleinen Brinkebüllern das Plattdeutsch auszutreiben, kämpft „mit dem Eifer eines Seuchendoktors gegen das Idiom der Tölpel und Zurückgebliebenen“, verfällt dann beim Fluchen aber selber ins Platt. Und dann: Marret Feddersen, die Mutter von Ingwer, verdreht, wie man sagt, singt Schlager, sammelt Blumen, Baumrinde, Storchenfedern, Seeigel, Versteinerungen , glaubt die Reste ihrer Welt zusammen… Von einem Ingenieur, der mit seinen Kollegen das Altmoränenland für die Flurbereinigung vermisst, wird sie schwanger. „De Welt geiht ünner“, erkennt sie später klargesichtiger als all die anderen, als dann die Landschaft begradigt und geebnet wird, „gereinigt“, als „wäre sie verdreckt, als wäre sie ein Fehler oder eine Schuld.“ Und damit das beginnt, was man auf gut Behördendeutsch als „Strukturwandel im ländlichen Raum“ bezeichnet. Die Schule verschwindet, der Dorfladen, die Dorfkastanie, die Störche …und irgendwann dann auch Marret, der man ihre Zuflucht in der Natur geraubt hat. „Keine Schönheit weit und breit. Nur nacktes Land, es sah verwüstet und geschunden aus. Ein Land, das man mit einer frommen Lüge trösten wollte, die Hand auf diese Erde legen: Wird schon wieder“, schreibt Dörte Hansen.
Liebeserklärung an das Plattdeutsch
Wie leicht hätte aus alledem Kitsch werden können. Aus der leise anklingenden Wehmut verklärende Nostalgie. Ach, so schön war’s einmal auf dem Dorf. Aber in diese Falle tappt Dörte Hansen nicht, beschreibt mit der gleichen bildhaften Kraft auch Enge, Untreue, Gewalt und Armseligkeit im düsterkleinen Brinkebüll. Sie spart nichts aus bei ihrer Untersuchung des Mikrokosmos Dorf, schreibt keine Beschönigungsliteratur – weder was die Vergangenheit noch was Gegenwart betrifft. Stattdessen: Ein eindringlicher Roman über den stillen Untergang einer Welt. Und – das nun aber doch – eine kleine Huldigung des Plattdeutschen: Früher sei man geächtet worden, wenn man Platt sprach, sagt die Soziolinguistin. „Jetzt“, so steht es in „Mittagsstunde“, „wurde man, sobald man seinen Mund aufmachte, wie ein Rote-Liste-Tier gehätschelt. Wie ein Feldhamster, der auch fast ausgestorben war, und auch so niedlich. Und so nett. So urig.“
Niedlich. Nett. Urig. Dörte Hansen hält dagegen, ganz wie der alte Gastwirt Sönke Feddersen mit trockenem Humor und Lakonie. „Die letzte Ölung“ scherzt er, als der Enkel ihn mit Arnika-Öl einreibt und der denkt: „Jeder Satz ein Treffer.“
" Dörte Hansen: Mittagsstunde. Penguin, 320 S., 22 €