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Welt im Umbruch: Von Klima bis Demokratie: Kann uns Vernunft retten?

Welt im Umbruch

Von Klima bis Demokratie: Kann uns Vernunft retten?

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    Max Horkheimer (vorne links), Theodor W. Adorno (vorne rechts) und Jürgen Habermas (im Hintergrund rechts), Siegfried Landshut (im Hintergrund links) im Jahr 1964 in Heidelberg.
    Max Horkheimer (vorne links), Theodor W. Adorno (vorne rechts) und Jürgen Habermas (im Hintergrund rechts), Siegfried Landshut (im Hintergrund links) im Jahr 1964 in Heidelberg. Foto: J. J. Shapiro

    Wo ist die denn, die Vernunft, für die die großen Aufklärungsdenker den Menschen doch begabt gehalten haben? Zeit sie sich etwa bei den Verhandlungen der UN-Klimakonferenz? Oder bei dem Wahltriumph von Brexit-Boris Johnson in Großbritannien? Zeigt sie sich in den täglichen Tweets des Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika oder in den deutschlandweiten Reaktionen auf das zufällige Zusammenfallen der Wörter Feuerwehrmann, Christkindlesmarkt, Migrationshintergrund bei einem Todesfall in Augsburg? Zeigt sich die Vernunftbegabung in der Entwicklung perfekter Überwachungssysteme wie in China oder im Trend zum E-Scooter auch in hiesigen Städten?

    Es kann angesichts all dessen jedenfalls nicht verwundern, dass prominente Stimmen in Büchern immer wieder mahnen und fordern: Soll die Zukunft noch gelingen, brauchen wir eine neue Aufklärung, wir müssen endlich vernünftig werden. Nur zum Beispiel: der nordamerikanische Psychologe Steven Pinker in „Aufklärung jetzt! – Für Vernunft, Wissenschaft, Humanismus und Fortschritt“; der israelische Historiker Yuval Noah Harari in „Homo Deus“ zur Bewahrung des Menschlichen gegen die Künstlichen Intelligenz; der englische Pädagoge Paul Mason in „Klare, lichte Zukunft“ mit einem Plädoyer für einen neuen Humanismus“; die Politologin Ulrike Guérot demnächst mit „Begräbnis der Aufklärung?“, Untertitel: „Zur Umcodierung von Demokratie und Freiheit im Zeitalter der digitalen Nicht-Nachhaltigkeit“; der Philosoph Michael Hampe mit „Die Dritte Aufklärung“, in der er fordert, es bräuchten eine „Steigerung der allgemeinen Bildung, „um sich nicht durch Mythen über neue Intensitäten verführen zu lassen“. Lebenssinn ohne Illusionen von „Entscheidungsschlachten“.

    Ist Greta Thunberg die Stimme der Vernunft?

    Durch Bildung zur Besinnung also. Aber zugleich sagen US-Psychologen: Höhere Bildung führt nicht zu besseren, zur Vernunft bekehrten Menschen – sondern nur zu besseren Argumenten für die gleiche Meinung und Haltung, die man aus seine Prägung ohnehin entwickelt hat. Auch die AfD beschwört ja das klassisch aufklärerische Motiv des mündigen Bürgers, der nach ihrer Lesart frei von der „herrschenden“ Meinung seine eigene bilden solle. Und: Ist Greta Thunberg die Stimme der Vernunft?

    Kein Wunder, dass in so komplizierten wie prekären Zeiten trotz der generell sinkenden Leselust der Sachbuchmarkt wächst und gewinnt. Orientierung ist gefragt. Auch der Philosoph Jürgen Habermas fordert aktuell in seinem letzten Großwerk („Auch eine Geschichte der Philosophie“): Einen Diskurs auf der Basis rationaler Argumente, um gemeinsam vernünftig zu werden. Dabei sollte man vielleicht gerade bei all dieser Aufklärungsbeschwörung für eine gelingende Zukunft auf ein Standard-Werk von Habermas’ einstigen Lehrern hinweisen. Vor jetzt 75 Jahren nämlich vollendeten die beiden jüdischstämmigen Deutschen im Exil in Kalifornien ihre „Dialektik der Aufklärung“. Auch wenn 1944 freilich im angesichts des Zweiten Weltkriegs Holocaust verfasst – diese bei den 68ern geradezu zum Kult gewordene Sammlung aus Essays, Exkursen und Entwürfen kann gerade heute noch klarmachen: Die Krisen sind womöglich nicht nur nicht durch eine Besinnung zur Vernunft zu lösen – sie sind wesentlich erst durch die Aufklärung entstanden.

    Selbst zum zerstörerischen Mythos geworden 

    In mindestens drei Belangen wirkt jene „Dialektik“ als die unweigerliche Schattenseite der Aufklärung gegenwärtig. Sie knüpfen an Marx und Freud an, behandeln Homer und den Marquis de Sade, und schaffen gerade kein System, sondern immer wieder neu ansetzende Abhandlungen voller wuchtiger Gedanken zum Befund: Die Erzählung vom vernunftbegabten Menschen hat eine ursprüngliche Verbindung aufgelöst – „Das Programm der Aufklärung war die Entzauberung der Welt. Sie wollte die Mythen auflösen und Einbildung durch Wissen stürzen.“ Doch unversehens ist sie darüber selbst zum zerstörerischen Mythos geworden. Horkheimer/Adorno schreiben: „Die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils.“ Und verstehen wir das heute nicht unmittelbar als eine erste gegenwärtige Schattenseite?

    Die Philosophen erklärten: „Der Mythos geht in die Aufklärung über und die Natur in bloße Objektivität. Die Menschen bezahlen die Vermehrung der Macht mit der Entfremdung von dem, worüber sie Macht ausüben. Die Aufklärung verhält sich zu den Dingen wie der Diktator zu den Menschen. Er kennt sie, insofern er sie manipulieren kann.“ In der Konsequenz, das ist der zweite hochaktuelle Belang, wird auch die Masse der Menschen zum Objekt der Rationalisierung – durch die Technik.

    Was bei Horkheimer/Adorno als die heraufdämmernde Herrschaft des „verrechnetes Denkens“ tönt, ist uns heute in den Algorithmen längst gegenwärtig: „Denken verdinglicht sich zu einem selbsttätig ablaufenden, automatischen Prozess, der Maschine nacheifernd, die er selbst hervorbringt, damit sie ihn schließlich ersetzen kann.“ Nach der entzauberten Natur entsteht der in seinen Vorlieben für den Konsum ausles- und sinnlich reizbare Menschapparat: „Die intimsten Reaktionen der Menschen sind ihnen selbst gegenüber so vollkommen verdinglicht, dass die Idee des ihnen Eigentümlichen nur in äußerster Abstraktheit noch fortbesteht: personality bedeutet ihnen kaum mehr etwas anderes als blendend weiße Zähne und Freiheit von Achselschweiß und Emotionen.“

    „Der Fluch des unaufhaltsamen Fortschritts“

    Weil die Aufklärung aber selbst Mythos ist, eine „falsche Klarheit“ also, in der der Mensch in seiner Eigentlichkeit nicht vorkommt, bleibt ein Rest, der aufbegehrt. Es entsteht innerer Selbsthass, der, um ausgelebt werden zu können, nach Projektion ins Äußere verlangt. Was dereinst die Juden traf, auch befeuert von Reizen bedienenden Nachrichten den Antisemitismus schürte. Das ist der dritte aktuelle Belang, Selbstbehauptung durch Entwürdigung anderer. Und als gesellschaftliche wie menschliche Dynamik gilt in der „Dialektik der Aufklärung“: „Der Fluch des unaufhaltsamen Fortschritts ist die unaufhaltsame Regression“ – im Voranstürzen verkümmert der Mensch und wünscht sich zurück. So gebiert die Aufklärung durch ihre unwillkürliche Schattenseite auch Naturzerstörung und Unmenschlichkeit, Fremdenhass und Nationalismus …

    Vorsicht also bei der Beschwörung der Aufklärung zur Rettung. Denn ihre Nachtseite gebiert die Ungeheuer der Zivilisation. Und wer meint, zum Zweck aufgeklärten Handelns mit Verboten zur Vernunft zu zwingen oder auf die Rationalität von Fakten in Diskursen zu setzen, der lese nach, was Vernunft wirklich meint: Sie ist kein Herrschaftsinstrument, sondern ein Prozess der „Selbstbesinnung“.

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