Am 22. Februar 1943, wenige Stunden nachdem der Nazirichter Freisler das Todesurteil gesprochen hatte, wurden Hans und Sophie Scholl und Christoph Probst in München hingerichtet – junge Leute im Alter von 21 bis 23 Jahren. „Hätte es“, würdigte Golo Mann ihre historische Tat, „im deutschen Widerstand nur sie gegeben, ... so hätten sie alleine genügt, um etwas von der Ehre des Menschen zu retten, welcher die deutsche Sprache spricht.“
Nach dem Krieg war es vor allem die 21-jährige Sophie Scholl, die man schnell zu einer anderen Anne Frank und zur eigentlichen Ikone des Widerstands stilisierte; sie wurde in Lesebüchern gewürdigt und stieg zu filmischen Ehren auf. Es nimmt dieser jungen Frau, die ihr Feuer und ihre Klarheit in die Widerstandsgruppe einbrachte, nichts weg, wenn man nun mit dem Abstand eines Dreivierteljahrhunderts ihren Bruder Hans Scholl als den eigentlichen Kopf und das Herz der Münchner Studentengruppe erkennt – zusammen vielleicht noch mit Alexander Schmorell. Zuletzt sind gleich zwei Bücher erschienen, die sich den Entwicklungsgängen und der Éducation sentimentale des Hans Scholl widmen, „Flamme empor!“ des evangelischen Pastors Robert Zoske und „Ich schweige nicht“ des Kaufbeurer Historikers und Publizisten Jakob Knab. Während Zoskes Buch überquillt von Belegen und bisweilen nicht frei ist von predigerhaften Einlassungen und einer spekulativen Überbewertung einer homosexuellen Erfahrung des 16-Jährigen, liest sich das Buch von Knab flüssig – und ist doch reich an präzisen historischen Beobachtungen.
Am Anfang war die schwärmerische Hingabe an den Führer
Vor dem Auge des Lesers entsteht das Charakterbild eines wilden jungen Mannes, der zunächst einmal nichts anbrennen lässt, weder in erotischer Hinsicht mit zahlreichen Frauenbekanntschaften – Sophie Scholl 1941: „Hans ist ein Chamäleon ... Er taumelt rastlos vom einen zum andern und sucht bei Ihnen, was er vielleicht bei sich suchen sollte“ –, noch in kultischer Verehrung von Stefan George oder schwärmerischer Hingabe an den Führer. Wie aus dem linientreuen Hitlerjungen, der sogar als Fahnenträger auf dem Nürnberger Parteitag an Adolf Hitler vorbeimarschieren durfte, wenige Jahre später die kühne, geistig getriebene Leitgestalt werden konnte, die in Hitler den „Dämon“ und in seinen tumben Gefolgsleuten „die Gottlosen“ sah, die diesem Ungeheuer „das Blut von Tausenden von Unschuldigen zum Opfer bringen“ – das wird von Knab meisterlich aufgearbeitet und ist spannend und bewegend zu lesen.
Man fragt sich: Wie konnte sich dieser junge Mensch aus einem totalitären Mainstream herausarbeiten, dessen subtile Gewalt über die Köpfe und Seelen aus der Distanz kaum mehr vorstellbar ist? Und fragt sich das und ist dankbar, dass Knab an die Quellen geht und ein exaktes Porträt auch der von Anfang an hitlerkritisch eingestellten Eltern zeichnet: Der gebrochenen Persönlichkeit des eher freisinnigen Vaters, der selbst 1942 denunziert wurde („Hitler ist die größte Gottesgeisel“) und vier Monate in Haft saß, und der frommen Mutter, zu der Hans Scholl nach allen törichten Eskapaden zurückkehren konnte.
Tieferen Einfluss noch als die Eltern aber übten Freunde auf Hans aus, etwa – um nur einen zu nennen – die spätere Typographen-Legende, der Ulmer Olympia-Designer Otl Aicher. An der beeindruckenden Bibliothek von Hans Scholl, die man bis heute einsehen kann, wird deutlich, welche „Geheimtipps“ von Freunden zu einer tiefen geistigen Verarbeitung der Kriegsschrecken führte, die der Sanitätsfeldwebel Hans Scholl erst in Frankreich und 1942 dann an der Ostfront machte. Die eigentliche Prägung der jungen Leute, die sich zur „Weißen Rose“ zusammenschlossen, erfolgte aber in München, wo Hans, von Kriegseinsätzen unterbrochen, Humanmedizin studiert.
Zwei große alte Männer formen das Gewissen
Zwei große alte, von Hitler ungebrochene Männer waren es vor allem, zu denen die Studenten aufschauten und von denen sie geprägt wurden und von denen sie sich zu tollkühnen Taten ermutigt fühlten: Zum einen der Herausgeber der Zeitschrift „Hochland“, Carl Muth, in dessen Bibliothek sich Hans Scholl vergrub und in dessen Haus er kennenlernte, wer immer in München denken konnte und aus christlicher Überzeugung dem „apokalyptischen Tier“ die Stirn bot. Der andere Große war der einsame, unter Schreibverbot stehende Philosoph und Essayist Theodor Haecker, glühender Hitlergegner seit Ende der Zwanzigerjahre, dessen Gedanken in beeindruckender Weise in die Flugblätter Eingang fanden, wie Knab schlüssig nachweist.
Hans Scholl ehrte den heute fast vergessenen Theodor Haecker, dessen Grab sich in Ustersbach (Kreis Augsburg) befindet, mit den Worten: „Er gehört zu jenen gewaltigen Erscheinungen, die das, was sie geschrieben haben durch ihre Person noch steigern.“ Wer heute die geistigen Quellen des Widerstands der „Weißen Rose“ studieren möchte, greift am Besten zu den in der Edition Suhrkamp erschienenen „Tag- und Nachtbüchern“ Haeckers. Auf diesen Horizont hingewiesen und den Werdeprozess einer charismatischen Persönlichkeit plastisch gemacht zu haben, ist das Verdienst der sorgfältigen und klugen Biographie von Jakob Knab.
" Jakob Knab: Ich schweige nicht. Hans Scholl und die Weiße Rose. WbgTheiss, 272 S., 24,95 €.