Über den schädlichen Einfluss von Film und Fernsehen auf die Jugend ist schon viel geschrieben worden. So lässt sich etwa nachlesen, dass bei jungen Inuit in Kanada Liebesbeziehungen schockierend oft im Selbstmord enden – weil die Realität im einsamen Norden nicht mit der Romantik auf der Leinwand mithalten kann. Ob es an der oft nicht minder einsamen norwegischen Küste ähnliche Probleme gibt, ist nicht bekannt, Kay Metzgers Inszenierung von Richard Wagners „Der fliegende Holländer“ am Theater Ulm gibt jedoch Anlass zur Besorgnis: Die eben dort angesiedelte romantische Oper ist bei ihm vor allem die Geschichte eines Teenagers, der sich in die Liebe zu einer Kinofigur hineinsteigert. Ein durchaus origineller Zugriff, der dem Zuschauer allerdings viel Fantasie abverlangt.
Das fängt schon mit der Bühne an, die ganz ohne mächtige Schiffsrümpfe, Wasser und zerfetzte Takelage auskommt. Intendant Metzger und seine Ausstatterin Petra Mollérus, die diese Produktion schon 2017 für das Landestheater im westfälischen Detmold erarbeitet haben, verlegen die gesamte Handlung ins Trockene, in das Foyer eines Kinos aus der großen Zeit Hollywoods. Alles braun und beige, rechts eine gut bestückte Bar, links eine bequem gepolsterte Bank. Auf dieser sitzt schon bei der Ouvertüre Senta (Susanne Serfling), trinkt Kaffee, faltet Papierschiffchen und wartet immer wieder auf die nächste Vorstellung von „Fluch der Meere“. Auf dem Filmplakat, ihr Held: der fliegende Holländer, der arme Seefahrer, der durch einen Fluch dazu gezwungen ist, auf alle Zeiten über die Weltmeere zu schippern – wenn ihn nicht eine treue Frau erlöst. Und genau diese Erlöserin will Senta sein. Theoretisch also gut, dass ihr gieriger und versoffener Seemannsvater Daland (Erik Rousi) beim Rum-Trinken in der Kinobar ihre Hand eben diesem, dem Plakat entsprungenen Holländer (Dae-Hee Shin) versprochen hat. Er weiß da noch nichts vom grausamen Fluch und von der untoten Besatzung. Senta befindet sich quasi im falschen Film: Die Liebesschnulze entpuppt sich als Horrorthriller.
Das gesamte Ensemble agiert auf hohem Niveau
Musikalisch geht dieser Abend im fast ausverkauften Großen Haus auf, wobei das von Generalmusikdirektor Timo Handschuh dirigierte Philharmonische Orchester weniger aufbrausend agiert als man es erwarten würde, sondern – ein bisschen Hollywood-like – eher eine edle Instrumentalspur für die Solisten produziert. Diese machen etwas daraus: Gastsopran Susanne Serfling, schon in Detmold in derselben Partie zu hören, singt die Senta makellos mit klug dosierter Dramatik und gefällt auch schauspielerisch als schwärmerischer Teenie mit etwas irrem Blick. Und Dae-Hee Shin interpretiert seinen Holländer mit so viel Schmerz und Todessehnsucht, dass es einem warm und kalt gleichzeitig wird. Auch der Rest des Ensembles agiert auf hohem Niveau – ebenso Opern- und Extrachor. Die Männer hat man vielleicht noch nie so kraftvoll gehört.
Die zwischen Traum und Bühnenrealität wechselnde Inszenierung aber bremst diese Energie (auch durch die unnötige Pause) ein wenig aus, trotz amüsanter Gruseleinfälle wie den des grinsenden Barkeeper-Doppelgänger-Chores, der aus einer Stephen-King-Verfilmung stammen könnte. So erfreulich es ist, wenn das Wagnersche Pathos auf Zimmergröße geschrumpft wird: Der beste Platz im Kino ist eben nicht das Foyer. Als Zuschauer beschleicht einen das Gefühl, dass die packenderen Geschichten hinten im Kinosaal erzählt werden. Doch die Wand will einfach nicht verschwinden.
Am Schluss: großer Applaus und einige Bravo-Rufe für Orchester und Solisten, verhaltener Beifall und vereinzelte Buhs für die Regie.
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