Bei den Dreharbeiten zu ihrem neuesten Film „Nomadland“ war Frances McDormand im Supermarkt einkaufen – und bekam das Angebot, dort zu arbeiten. Das hat faktisch und symbolisch auch mit den diesjährigen Filmfestspielen von Venedig zu tun. Zum einen, weil das poetische Panorama von Wohnwagen-Vagabunden in den USA den Golden Löwen für den besten Film erhielt und die Oscar-Gewinnerin diese Anekdote bei der Pressekonferenz erzählte. Aber gleichzeitig kann man daraus einen übergreifenden Sinn herausfiltern. Denn was ist, wenn das Kino seine Fähigkeit einbüßt, überlebensgroße Visionen zu entwerfen, die die Plattform einer Leinwand brauchen? Wenn es so sehr mit der alltäglichen Realität verschmilzt und seine Geschichten ihre mythenbildende Kraft verlieren, dass es keine Ausnahmestellung mehr besitzt?
Bei „Nomadland“ war dies das Konzept. Denn Filmemacherin Chloé Zhao („The Rider“) verschmolz bewusst Fakten und Fiktionen, indem sie reale Personen aus dem Kreis der heimatlosen Wanderer sich selbst spielen ließ und verzichtete auf einen dramatischen Spannungsbogen zugunsten versponnen-feinfühliger Porträtzeichnungen. Das war in jedem Falle preiswürdig. Doch diese Auszeichnung war auch symptomatisch für den prekären Zustand, in dem sich die Kinolandschaft in diesem Jahr befindet. Denn mangels cineastischer Ereignisse – die keineswegs mit dem dröhnenden Bombast eines „Tenet“ identisch sein müssen – und eingeschränkten Abspielmöglichkeiten findet derzeit noch eine Fokussierung auf das Kleinformatige statt.
Kompromisse und Kosten
Immerhin: Wie die Biennale Cinema 2020 beweist, bäumt sich das Kino noch auf. Denn es gab eben dieses reale Festival mit Teilnehmern aus Fleisch und Blut und echten Leinwänden. Dass das mit Kompromissen und Kosten verbunden war, musste in Kauf genommen werden. Die Zahl der Akkreditierten war gegenüber den Vorjahren auf rund 6000 halbiert. Die Kontroll- und Reinigungsmaßnahmen, die dem Virus Einhalt gebieten sollten, kosteten angeblich rund 600000 Euro. Aber dieser Kompromiss kann als geglückt bezeichnet werden. Schon allein seuchenpolitisch: Bis dato sind keine Infektionen bekannt, die am Lido von Venedig ihren Ausgang nahmen.
Ob das Festival zum Inkubator für Filme wird, die internationale Breitenwirkung erzielen werden, lässt sich dieses Jahr schwerer beurteilen als in den Vorjahren, wo ein „Shape of Water“, „Roma“ oder „Joker“ schon bei der Premiere ihr Potenzial erkennen ließen. Doch gleichzeitig war die qualitative Dichte des Programms bemerkenswert, ohne wirkliche, größere Enttäuschungen. So ist es bezeichnend, dass Vanessa Kirby, ausgezeichnet als beste Hauptdarstellerin, streng genommen für zwei Filme hätte gewinnen können. „Pieces of a Woman“ stach dann das viel gelobte „The World to Come“, das überraschenderweise leer ausging, aus. Überhaupt schien es nicht genügend Preise zu geben, um alle verdienten Kandidaten zu würdigen. Der Iraner Majid Majidi legte mit „Khorshid“ über die Schatzsuche von Straßenkindern einen seiner besten Filme vor – das Resultat war lediglich die Auszeichnung für Rouhollah Zamani als bester junger Schauspieler. Altmeister Andrei Konchalovsky war für „Dear Comrades!“, die beklemmende Darstellung der Niederschlagung eines Aufstands im sowjetischen Nowotscherkassk, der Hauptpreis zugetraut worden. Es wurde dann der Spezialpreis der Jury. Ob Kiyoshi Kurosawas Weltkriegsthriller „Wife of a Spy“ wirklich die beste Regie des Wettbewerbs repräsentierte, mag man diskutieren, aber er bietet nach einem langsamen Anfang klassisches Erzählkino im besten Sinne.
So ist Venedig 2020 noch keine endgültige Antwort auf die Zukunft des Kinos in Zeiten des Virus. Doch das Festival beweist, welch latente Kraft in der Branche und ihren Akteuren steckt. „Nomadland“-Macherin Chloé Zhao hat ihrerseits den Gang gewechselt und greift nun zu den Mitteln des Spektakels. Ihr nächster Film ist die Marvel-Produktion „The Eternals“.