Eine Handy-App macht es heute leicht, den Effekt nachzuvollziehen, der den Italiener Secondo Pia im Jahr 1898 verblüffte: Als er das Negativ seiner Fotografie des Turiner Grabtuchs entwickelte, erschien anstelle eines maskenhaften Schattens auf dem Original nun ein ausdrucksstarkes Gesicht. Pia wurde damit zum ersten Sindonologen, so nennen sich die Erforscher dieses Grabtuchs (griechisch: Sindon). Seither rätselt die Welt: Wer ist der Mann auf dem Tuch?
Danach fragt eine Ausstellung im Augsburger Diözesanmuseum und begibt sich auf Spurensuche in der Forschung. Gerade recht kommt diese Einstimmung, denn von 19. April bis 24. Juni wird das Grabtuch erstmals seit fünf Jahren wieder einmal im Turiner Dom gezeigt. Am 21. Juni kommt sogar Papst Franziskus. Natürlich geht es um die Gretchenfrage: Handelt es sich tatsächlich um den gekreuzigten Jesus von Nazareth, wie die kirchliche Verehrung des 4,40 Meter langen und 1,13 Meter schmalen Tuchs seit mindestens 1250 Jahren annimmt?
Die Kuratorin der Schau des Malteser-Ordens, Bettina von Trott zu Solz, möchte sie ausdrücklich offen halten. „Wir geben nicht vor, das sei Jesus Christus. Jeder Besucher kann seinen eigenen Zugang finden“, sagt sie. Die Ausstellungsmacher ließen die Wissenschaft sprechen. Sie kam zu erstaunlichen Erkenntnissen. So machte der israelische Botaniker Avinoam Danin auf dem Tuch auffallend viele Pollen von der dornigen Distel sowie den Abdruck eines Blütenzweigs des buschigen Jochblatts aus. Beide Pflanzen zugleich findet man nur auf einem schmalen Geländestreifen zwischen Jerusalem und Hebron und sie blühen im März und April. In der mikroskopischen Untersuchung der Textilie fand man unter anderem an der Fußsohle auch Straßenstaub aus Mineralien, die in der Erde Jerusalems vorkommen.
Zudem gehören die Flecken von menschlichem Blut auf dem Tuch – das wirklich aus Wunden ausgetreten sein muss, also nicht aufgemalt ist – zur Blutgruppe AB, die in Israel um die Zeitenwende doppelt so häufig auftrat wie in europäischen Ländern. Der Historiker Michael Hesemann, Autor mehrerer Bücher zum Turiner Grabtuch, ist sichtlich beeindruckt von solchen Fakten.
Die Reihe der Indizien führt er so weit fort, dass die religiöse Schlussfolgerung naheliegt, niemand anderer als Jesus Christus sei hier abgebildet. „Der abgebildete männliche Leichnam zeigt völlig natürliche Körperkonturen, als wäre er mit einem 3-D-Verfahren wiedergegeben“, erklärt Hesemann. Der Bildhauer Luigi Mattei aus Bologna hat ihn im Originalmaß (1,78 Meter groß) nachgebildet – wohl das spektakulärste Stück der Ausstellung, die noch mit ein paar anderen anschaulichen Exponaten aufwartet, nicht zuletzt einer Reproduktion des Tuchs selbst. Etwa die Rekonstruktion der Dornenkrone, die wohl wie eine Haube aussah und viele kleine Stichwunden auf dem Kopf hinterließ. Etwa die nachgebildete römische Geißelpeitsche mit eingeknüpften Bleiperlen in ihren Lederriemen. Eine Vielzahl von Platzwunden haben sie auf der Haut des gemarterten Leichnams hinterlassen. Zwei Geißeln schlugen vor allem auf dem Rücken zu, insgesamt 39 Schläge – die Vorgabe nach jüdischem Gesetz, um ja nicht übermäßig zu strafen. Etwa die kantigen Nägel, wie sie bei dem Mann auf dem Grabtuch die Handwurzel in einer Spalte durchbohrten, die allein geeignet ist, das Gewicht eines hängenden Körpers zu halten.
Zusätzliche Merkwürdigkeiten wurden bei den Untersuchungen seit 1978 sichtbar: Auf den Augen des Toten zeichnen sich Negativabdrucke römischer Münzen ab, die unter Pontius Pilatus geprägt wurden. Professor Giulio Fanti von der Universität Padua meint, das Grabtuch-Abbild sei durch eine Strahlung entstanden. Daraufhin stellten sich die ganz überzeugten Sindonologen vor, eine Korona-Strahlung könne bei der Auferstehung Jesu vom Tode entstanden sein. Michael Hesemann beteuert: „Das Grabtuch trägt die Osterbotschaft in sich.“
Fast zu glatt geht aus seiner Warte die Sache auf. Lückenlos will er die Überlieferung von Golgota weg nachverfolgen, wofür Hesemann sogar eine Legende des 4. Jahrhunderts über König Abgar von Edessa bemüht, der mit Jesus persönlich korrespondiert und das Grabtuch vom Apostel Thaddäus im Jahr 30 erhalten habe. Seriös lässt sich der Verbleib erst ab dem 7. Jahrhundert in Edessa, dann in Konstantinopel, seit 1206 in Besancon, ab 1355 in Lirey, ab 1453 in Chambery und ab 1578 in Turin nachvollziehen.