Der türkische Literatur-Nobelpreisträger Orhan Pamuk soll wieder vor Gericht gestellt werden – diesmal wegen Beleidigung von Staatsgründer Atatürk und der türkischen Flagge. Ein Amtsgericht in Istanbul gab jetzt in zweiter Instanz einer Anzeige gegen Pamuk statt und wies die Staatsanwaltschaft an, eine Anklageschrift auszuarbeiten, wie der Beschwerdeführer unserer Redaktion in Istanbul bestätigte; der Prozess könnte noch in diesem Jahr beginnen.
2005 stand Nobelpreisträger Orhan Pamuk schon einmal vor Gericht
Pamuk war bereits 2005 wegen Beleidigung des Türkentums vor Gericht gestellt worden, wurde aber nach internationalen Protesten auf Intervention der Regierung nicht verurteilt. Ein Jahr darauf erhielt er den Nobelpreis. Die neuen Vorwürfe richten sich gegen Pamuks Roman „Die Nächte der Pest“, der im Frühjahr auf Türkisch erschien und nächstes Jahr in deutscher und englischer Übersetzung vorliegen soll. Er handelt von einer Pandemie auf einer fiktiven Mittelmeerinsel im frühen 20. Jahrhundert und thematisiert den Nationalismus der türkischen und griechischen Inselbewohner vor dem Hintergrund des Osmanischen Reichs.
Zu den Hauptpersonen zählt ein junger Offizier namens Kamil, der nicht nur mit seinem Rang und Namen an den jungen Mustafa Kemal erinnert, wie Atatürk vor der türkischen Staatsgründung hieß: Kamil führt eine Revolution auf der Insel an; nach seinem Tod erheben seine Anhänger ihn zur Kultfigur und nutzen sein Andenken, um auf der Insel ihre politischen Ziele durchzusetzen. Damit wolle Orhan Pamuk offensichtlich Atatürk verspotten, empörte sich die regierungsnahe Zeitung Hürriyet schon kurz nach Erscheinen des Romans im April. Die Parallelen zwischen Kamil und Atatürk seien nur zu deutlich, schrieb Chefredakteur Ahmet Hakan, der als Stichwortgeber für Kampagnen gegen Andersdenkende bekannt ist. Insbesondere das Auftauchen von Krähen in dem Roman wertete Hakan als Beweis dafür – sei von Atatürk doch bekannt, dass er als Kind gerne Krähen nachjagte.
In Orhan Pamuks Roman "Die Nächte der Pest" geht es um einen Offizier, der Staatsgründer Atatürk ähnelt
Außerdem schwenke Kamil in dem Buch eine lächerliche Fahne mit einem griechischen Emblem. Ein Rechtsanwalt aus Izmir reichte daraufhin Strafanzeige gegen Pamuk ein. Ebenso wie der Schriftsteller 2005 die türkische Nation beleidigt habe, indem er in einem Schweizer Zeitungsinterview von den armenischen und kurdischen Opfern türkischer Massaker in Anatolien gesprochen habe, so greife er mit der Verhöhnung von Atatürk nun wieder die Werte des türkischen Volkes an, hieß es in der Anzeige von Tarcan Ülük.
Schriftsteller Orhan Pamuk: Die Figur des Offiziers wird vom Volk geliebt
Pamuk wurde von der Staatsanwaltschaft zum Verhör einbestellt und bestritt die Vorwürfe. Die Figur des Offiziers Kamil werde in seinem Roman vom Volk geliebt, unterstrich der Schriftsteller. Außerdem würden in seinem Buch keine Krähen gejagt. Die Staatsanwaltschaft stellte die Ermittlungen ein. Ülük legte Beschwerde gegen die Einstellung des Verfahrens ein, der vom zuständigen Gericht jetzt stattgegeben wurde. Ülük, der in der Vergangenheit auf lokaler Ebene für verschiedene rechtskonservative Parteien kandidiert hat, zeigte sich zufrieden mit der Entscheidung und sagte, er rechne mit einem Prozessbeginn im kommenden Monat. „Orhan Pamuk ist ein Schriftsteller, der unsere gemeinsamen Werte angreift“, sagte er unserer Zeitung in Istanbul. Sein Werk sei unvereinbar mit den Interessen der türkischen Nation. Pamuk äußerte sich zunächst nicht zu dem neuen Verfahren.