Im weiten Overall und mit einem Cowboyhut auf dem Kopf tritt Wiebke (Nina Hoss) aus der Scheune heraus und schreitet ruhigen Schrittes durch das Morgengrauen zur Pferdekoppel. Am Anfang von Katrin Gebbes „Pelikanblut“ steht das Bild einer Frau, die mit sich und ihrer Welt im Einklang ist. Das alles hier, das Haus und den Pferdehof, hat sie sich selbst aufgebaut, um in der Abgeschiedenheit nach den eigenen Vorstellungen zu leben.
Dazu gehört auch eine Familie, die ohne Vater auskommt. Vor einigen Jahren hat sie Nicolina (Adelia-Constance Giovanni Ocleppo) aus Bulgarien adoptiert. Die Neunjährige bringt gute Noten nach Hause und hat ein herzliches Verhältnis zu ihrer Adoptivmutter. Nun soll noch eine kleine Schwester hinzukommen. „Ich habe so lange auf dich gewartet“, sagt Wiebke zu der fünfjährigen Raya (Katerina Lipovska), als sie das Mädchen in einem bulgarischen Waisenhaus abholt. Aber nach einigen Wochen treten erste Verhaltensauffälligkeiten zutage. Mit einem Wutausbruch beim Essen fängt es an. Im Streit beißt sie die ältere Schwester blutig. Raya malt düstere Gestalten an die Wand, verschmiert ihre Exkremente im Bad und legt schließlich sogar Feuer im Haus. Der Psychologe attestiert eine schwere „dissoziative Störung“. Neurologische Untersuchungen belegen Veränderungen im Gehirn, die dazu führen, dass Raya weder Angst noch Mitgefühl empfinden kann.
Die Kita wirft das aggressive Problemkind raus. „Die muss weg“ sagt auch die Freundin, an deren kleinen Sohn sich Raya vergangen hat. Der Psychologe empfiehlt eine Unterbringung in einer Spezialklinik. Aber Wiebke nimmt die Herausforderung an und versucht dem traumatisierten Mädchen jene bedingungslose Liebe zukommen zu lassen, die ihm als Baby verwehrt wurde. In einem Tuch auf dem Rücken trägt sie Raya mit sich herum, schluckt illegale Hormonpräparate, um das Kind zu stillen, und wird zunehmend zur Gefangenen ihrer uneingestandenen Überforderung.
Das Pferd lässt sich nie völlig bändigen
In „Pelikanblut“ stellt Regisseurin Katrin Gebbe den Mythos der grenzenlosen Mutterliebe auf den Prüfstand. Dabei überschreitet der Film gezielt die Beschränkungen des Realismus und lässt sich immer wieder in mystische Horrorfilmmomente hineintreiben. Dazu gehört nicht nur ein traumatisiertes Mädchen, sondern auch ein paralleler Erzählstrang, der sich um ein widerspenstiges Pferd rankt. Auf ihrem Hof trainiert eine Polizeistaffel ihre Pferde für den Einsatz unter Stresssituationen. Bevor die Tiere eingesetzt werden können, müssen sie eine Gelassenheitsprüfung ablegen.
In dem Pferd, das sich nie vollständig bändigen lässt, und der Reiterin, die das nicht wahrhaben will, spiegeln sich Wiebkes Probleme mit Raya. Immer wieder baut Gebbe verschiedene Resonanzräume auf, um ihre Geschichte über das realistische Format hinaus zum Klingen zu bringen, bis hin zum Ende, wo eine Schamanin als letzte Rettung gegen den bösen Geist zurate gezogen wird. Daraus entsteht ein stimmungsvolles und facettenreiches Mystery-Drama von nachhaltiger Wirkung, in dem Nina Hoss mit ihrer stillen Präsenz die Fürsorgegefühle ihrer Figur vollkommen schlüssig ins Extrem führt.
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