„Ton“ steht für Wärme, Formbarkeit und Flexibilität, während „Steine“ als unverrückbare Symbole gelten, die Widerstand leisten und Ewigkeiten überdauern. Und „Scherben“ passen sowieso wie die geballte Faust auf diese bunte, widersprüchliche, schwer zu fassende Bandphilosophie: Alles liegt bisweilen in Scherben, die heile Welt der Spießbürger, die Familie, das eigene Leben – zerstört, kaputt. Also logisch: Macht kaputt, was euch kaputt macht!
In der deutschen Kulturgeschichte gibt es nur wenige Formationen, bei denen Botschaft und Musik derart gleichberechtigt in einem stimmigen Konzept aufgingen, wie dies bei Ton Steine Scherben der Fall war. „Die Scherben“, wie sie genannt wurden, waren Pioniere im besten Wortsinn. Dank ihrer künstlerischen Urgewalt und ihrem politischen Sendungsbewusstsein avancierten sie in den frühen 1970er Jahren zur Hausband der Anarchos und Spontis in West-Berlin.
Ihre Texte schrien jungen Leuten aus dem Herzen: "Keine Macht für niemand!"
Ihre Texte schrien den jungen Leuten förmlich aus dem Herzen: „Reißen wir die Mauern ein, die uns trennen. Kommt zusammen, Leute, lernt euch kennen. Du bist nicht besser als der neben dir. Keiner hat das Recht, Menschen zu regier’n.“ Und im Refrain hieß es: „In jeder Stadt und in jedem Land heißt die Parole von unserem Kampf: Keine Macht für niemand!“

Das saß und traf genau den Nerv jener Zeit, in der sich die Generationen scheinbar unversöhnlich gegenüberstanden. Für die einen war die in Berlin-Kreuzberg in einem Haus am Tempelhofer Ufer lebende Band ein Haufen gefährlicher Radikaler und geistiger Brandstifter, andere hoben sie auf einen Sockel und feierten ihre schonungslose Abrechnung mit dem Kapitalismus und seinen Auswüchsen.
Als Gesicht der Scherben galt ein schmächtiger Junge mit langen braunen Haaren, dem noch weit vor Udo Lindenberg etwas gelingen sollte, das bis dato niemand für möglich gehalten hatte: zu angloamerikanischem Rock deutsche Texte zu singen. Der Bursche hieß Rio Reiser, mit bürgerlichem Namen Ralph Möbius. Die Texte waren in einer Sprache gehalten, die Studenten und Arbeiter problemlos verstehen konnten: „Hau ab“ oder „Allein machen sie dich ein“. Alles war geprägt von persönlichen Erfahrungen, von erlebter Unterdrückung und eigener Frustration. Rio sang, was er fühlte; Liebeslieder, die nie peinlich klangen, und Politsongs, die nur deshalb glaubhaft rüberkamen, weil er seine ganze Persönlichkeit mit in die Waagschale warf. So wurden die Songs der Scherben zum Soundtrack zur Revolte: lange Haare, Drogen, Hausbesetzungen, Demos.
2021 ist in mehrerlei Hinsicht ein Jahr, in dem es lohnt, sich wieder an Ton Steine Scherben zu erinnern. Die verbliebenen Bandmitglieder feierten im Juni mit einem Open-Air-Konzert auf einem Schiff am Spreeufer in Berlin-Oberschönweide ihr 50-jähriges Bestehen, und nachträglich gleich noch den 70. Geburtstag ihres Aushängeschildes Rio Reiser. Dessen Todestag wiederum jährte sich in der vergangenen Woche (22. August) zum 25. Mal. Der Berliner Senat beschloss deshalb, Reisers letzte Ruhestätte auf dem Alten St.-Matthäus-Kirchhof in Schöneberg für zunächst 20 Jahre als Ehrengrabstätte des Landes Berlin anzuerkennen. Das Gezerre um die heftig umstrittene Umbenennung des Kreuzberger Heinrichplatzes in „Rio-Reiser-Platz“ scheint tatsächlich bis zum Jahresende ein versöhnliches Ende zu finden.
Parallel dazu hat Misha Schoeneberg, Tourmanager und Lebensgefährte von Rio Reiser, einen Roman über die schönen, wilden gemeinsamen Zeiten veröffentlicht, Titel „Als wir das Wunder waren – Ein Rock’n’Roll-Märchen erzählt in zehn und einer Nacht“ (Jaron-Verlag, 512 S., 18¤). Und von den Scherben gibt es seit kurzem eine brillante Doppel-CD mit den stärksten Songs aus einem halben Jahrhundert. Ihr programmatisches Motto: „50 Jahre“ (David Volksmund/Indigo). 36 Stücke voller Kraft und textlicher Spannbreite, vom ruppigen Politsong bis zum ambivalenten Liebeslied, von geballter Wut bis zu verdreht surrealen Wortbildern, von knalligem Punk bis zu Reggae-Latin-Flow. Darauf finden sich vier unveröffentlichte Titel: die Urfassung von Rio Reisers „Junimond“, eine Demoversion von „(Auf ein) Happy End“ sowie die Rockpalast-Versionen von „Ich will nicht werden, was mein Alter ist“ und „Sklavenhändler“.
Wer sind die Nachfolger von Degenhardt, Wader, Biermann und Wecker?
Angesichts der nostalgischen Erinnerungswelle im „Ton Steine Scherben“-Jahr stellen sich natürlich auch Fragen wie diese: Gibt es heute noch so etwas wie politischen Rock oder gar politischen Pop? Kann er nach wie vor ein Vehikel sein, um wenigstens einen Teil der Welt zu verändern. Oder ist er gar Mittel zum kommerziellen Zweck einiger Weniger geworden? Und wo suchen die Interpreten heute Beifall? Weiterhin in der linken Ecke? Zunehmend vielleicht auch bei den Rechten?
Immerhin schätzen die Soziologen Christian Dornbusch und Jan Raabe, dass zwischen der deutschen Wiedervereinigung 1990 und 2006 annähernd 400 deutsche Bands über 1200 Rechtsrock-Platten herausgebracht haben. Böse Menschen haben eben doch Lieder. Indirekt folgen sie damit sogar einem Manifest von Ton Steine Scherben, veröffentlicht 1970 in der Westberliner Untergrundzeitung Agit 883: „Musik kann zur gemeinsamen Waffe werden, wenn du auf der Seite der Leute stehst, für die du Musik machst! Ein Lied hat Schlagkraft, wenn es viele Leute singen können.“
Tatsächlich erfindet sich das politische Lied offenbar immer wieder neu, ob mit Klampfe begleitet oder unterlegt mit Hip-Hop-Beats. Zum Superstar wie einst Bob Dylan oder Joan Baez wird man damit kaum mehr, doch darum geht es den Protagonisten gar nicht.
Lieder verbreiten sich immer noch schneller als Bücher, sie erzeugen Gefühle und lassen sich gemeinsam singen. Die Scherben nutzten diese „Waffe“ als erste deutsche Politrockband, überschritten ganz bewusst Grenzen, priesen das Schwarzfahren, riefen zum Widerstand gegen Immobilienspekulanten auf, setzten sich für die Arbeiterrechte ein, sympathisierten mit Mao und seiner Kommunistischen Partei. Damit lagen sie auf einer ideologischen Linie mit Polit-Liedermachern ihrer Zeit wie Franz-Josef Degenhardt, Hannes Wader, Wolf Biermann und Konstantin Wecker.
Mit Botschaft unterwegs: Danger Dan und Max Herre und AnnenMayKantereit
In den 1980er Jahren kam der Punk, auch Lindenberg und BAP agierten bisweilen politisch, bis der Rap bis zur Jahrtausendwende die Funktion des Mahners übernahm.
Doch der „Rap von der Straße“, der Themen wie Drogen, Armut und Prostitution in den Vordergrund stellte, verlor – zumindest in der kommerziellen Breite – rasch seine politische Dimension und verkam zu einer Verherrlichung des Gangsterdaseins. Grundsätzlich besitzen Songs von Bushido, der Straßenbande 187 oder Haftbefehl nach wie vor politische Nuancen. Allerdings liefern die meisten Texte höchstens Rückschlüsse auf das Leben in schwierigeren Verhältnissen. An ihre Stelle sind inzwischen Künstler wie Max Herre („Dunkles Kapitel“), AnnenMayKantereit („Weiße Wand“), Kummer („Schiff“) oder Danger Dan („Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt“) getreten – meinungsstarke, teils junge Musiker, Sänger und Komponisten, die ihren Texten gerne eine philosophische, mitunter schwer zugängliche Tiefe verleihen.
Ihre Finger legen sie seit 50 Jahren in immer dieselben Wunden: soziale Ungerechtigkeit, Rassendiskriminierung, Ausgrenzung, Umweltzerstörung, Neonazis und Kriege. Das heiter-sarkastische und irgendwie zeitlose Flair, das Rio Reiser einst verströmte, ist dagegen völlig verschwunden. Wie grandios passend wäre sein Statement doch jetzt im Angesicht der bevorstehenden Bundestagswahl bei der Suche nach dem neuen König, respektive der Königin von Deutschland!