„Viva il caro Sassone!“ bejubelte das venezianische Publikum den „lieben Sachsen“ Händel nach der Uraufführung von dessen Oper „Agrippina“, und auch jetzt war der Beifall stürmisch nach der Premiere der Neuinszenierung im Münchner Prinzregententheater. Wenngleich die Ovationen nun primär den Interpreten galten, gerade auch dem Regisseur Barry Kosky. Sorgt der doch dafür, dass dieses Muster einer Händel-Oper mit seinen barocktypischen Schema von stereotyp wechselnden Arien und Rezitativen zu einer Angelegenheit von Witz, Herz und Gedanke wird.
Im Zentrum der Oper steht die römische Kaiserin Agrippina, die ihren aus früherer Verbindung stammenden Sohn Nero an die Macht bringen will, wofür ihr jede Intrige recht ist. Aber auch alle anderen um sie herum, Kaiser Claudius, sein Feldherr Ottone, dessen Angebetete Poppea und natürlich Nero, sind in Sachen Arglist nicht von Pappe – ein antikes „House of Cards“-Ränkespiel hat Kosky das in Anspielung auf die Netflix-Serie genannt. Trotzdem hat der Regisseur darauf verzichtet, das Ränkespiel in Ort und Zeit konkret festzuzurren. Der zweistöckige, auf der Bühne bewegliche und multifunktionale Kubus, den Bühnenbildnerin Rebecca Ringst als Spielstätte entworfen hat, ist trotz seines Edelstahl-Gerüsts und seiner vielen Jalousien weniger eine Metapher fürs Hier und Heute denn visuelle-überzeitliches Signet für die Kälte und das Geheimniskrämertum der Macht, nach der alle streben und die für Agrippina & Co. die entscheidende Triebfeder jeglichen Tuns ist.
In "Agrippina" wird reichlich gefingert und gegrapscht
Wunderbar, wie Kosky aus dürren Libretto-Schemen Menschen von Fleisch und Blut formt. Wobei die Männer sämtlich mit einem Zug ins Trottelige gezeichnet sind – allesamt Sklaven ihrer Gelüste, was vor allem Agrippina gezielt zu instrumentalisieren versteht und weshalb denn auch reichlich gefingert und gegrapscht wird in dieser Inszenierung. Sehr vergnüglich auch, wie die Regie das ewige Deklamieren und Gefühlsaussingen in Bewegung überträgt, bis hin zu temporeichem Tür-auf-Tür-zu-Geklapper und einer hinterlistigen Szene für Nero: Der begibt sich bei einer Arie, in welcher er sich als Volkes’ Wohltäter aufspielt, mitten ins Publikum, um den „Elenden Trost zu reichen“ – was in Anbetracht der versammelten München-Schickeria natürlich zum Kichern ist. Dennoch, und nicht zuletzt das macht die Stärke seiner Inszenierung aus, bedient sich Kosky nicht nur aus dem Fundus der Farce, sondern bringt gegen Ende der Handlung auch einen herzlichen Ton ins Spiel: Amor vincit – die Liebe vermag zumindest einige der Akteure zu rühren, ein bisschen jedenfalls. Und im Schlussbild lässt Kosky sogar Agrippina nachdenklich werden.
Einmal mehr ist in München Ivor Bolton der Mann fürs Barocke. Ein Dirigent, der die Affekte der Musik regelrecht mit Händen zelebriert und für mächtigen Drive vor allem dadurch sorgt, dass er die einzelnen Nummern hart aneinander zu einem soghaften Kontinuum fügt. Die Barockabteilung des Staatsorchesters lässt sich bereitwillig mitnehmen von Boltons entschiedenen Gesten, und der unter anderem mit zwei Cembali, Harfe und Theorbe besetzte Continuo sorgt für rauschhafte Klangmixturen.
Diesem Nero gebührt die Krone
Die Sängerbesetzung ist durchweg glänzend, aber was heißt hier Sänger: Das gesamte achtköpfige Ensemble versteht sich nicht minder aufs Darstellerische, und erst beides zusammen lässt die neue Münchner „Agrippina“ zum schlagkräftigen Srewball-Barockbelcanto werden. Alice Coote weiß in die zahlreichen Facetten der Titelpartie vokal wandlungsreich auszuleuchten, ja in die Heimtücke ihrer Figur sogar schon ein wenig Wahnsinn hineinzulegen, während Gianluca Buratto als ihr Gemahl Claudius den Imperator-Ton in Sekundenschnelle auf den eines vor Hormondruck zerfließenden Männerwichts zusammenschnurren zu lassen vermag. Auch Elsa Benoit versteht sich auf Schattierungen, lässt ihre Poppea mal hellsilbrig zirzen, ein andermal dunkel-brüsk die Offerten von sich weisen. Was bei Ottone einen Gefühlswirrwarr entfacht, den Countertenor Iestyn Davies zu anrührenden Lamenti nutzt. Und dann ist da noch Franco Fagioli. Schon darstellerisch gibt er den Nero hinreißend als verschlagenen Bastard, dem man ohne weiteres zutraut, dass er zündeln wird an der nächsten römischen Straßenecke. Wie der hochliegende Counter dazu am Schluss der Oper triumphierend zu trillern, durch Koloratur-Achterbahnen zu jagen und eine allerhöchste Vokalspitze zu setzen vermag, ist derzeit wohl ohne Vergleich. Diesem Nero gebührt die Kaiserkrone!
- Am 28. Juli wird „Agrippina“ ab 18 Uhr kostenlos gestreamt auf www.staatsoper.tv