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Theater Ulm: Die Legende der heiligen Heuchlerin

Theater Ulm

Die Legende der heiligen Heuchlerin

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    In der Ulmer Version von Andrew Lloyd Webbers weltweitem Musical-Hit ist Julia Steingaß (oben auf) die Evita.
    In der Ulmer Version von Andrew Lloyd Webbers weltweitem Musical-Hit ist Julia Steingaß (oben auf) die Evita. Foto: Jochen Klenk

    Wahrscheinlich ist gerade eine gute Zeit für eine „Evita“-Inszenierung. Beim vermurksten Augenklappen-Auftritt von Madonna beim „Eurovision Song Contest“ sehnten sich manche Zuschauer in Zeiten zurück, als die US-Sängerin noch singen konnte – unter anderem eben jenes „Don’t Cry For Me Argentina“ aus Andrew Lloyd Webbers Musical, das in der Verfilmung von 1996 ein Kinohit wurde. Gutes Timing also beim Theater Ulm, das „Evita“ nun als Freilichtproduktion auf der Wilhelmsburg zeigt: Bei der Premiere jedenfalls ernten Darsteller und Team stürmischen Applaus, nachdem zuvor heftiger Wind die erste Hälfte der Vorstellung für Ensemble wie Publikum äußerst ungemütlich machte.

    „Evita“ erzählt die Geschichte der argentinischen Radiomoderatorin und Schauspielerin Eva Duarte, die sich aus einfachsten Verhältnissen mit den Waffen einer Frau nach oben arbeitete – und sich schließlich 1944 den Politiker Juan Perón angelte. An seiner Seite stieg Eva Perón zur First Lady des südamerikanischen Staates auf. Evita, wie sie genannt wurde, wurde als Wohltäterin von den Armen wie eine Heilige verehrt, war aber auch das schöne Gesicht einer faschistisch inspirierten Regierung, welche die Opposition brutal unterdrückte und das Land finanziell ruinierte. Zum Mythos wurde sie, als sie 1952 mit gerade einmal 33 Jahren an Krebs starb.

    Von der Ambivalenz der Person Eva Perón handelt auch das bereits 1978 uraufgeführte Stück, bei dem der junge Student Che als Erzähler und moralischer Gegenspieler der schillernden Polit-Schauspielerin fungiert. Wolf Widders Inszenierung auf der Ulmer Wilhelmsburg lässt bei der Premiere kaum einen Zweifel daran, wie er auf die Hauptpersonen blickt: Julia Steingaß, ausgebildete Musicaldarstellerin, spielt und singt Evita als berechnende Glitzerlady, Opern-Bass Martin Gäbler verleiht Juan Perón eine dunkle Bösewichtstimme; Thomas Christ als Che ist der eigentliche Sympathieträger – ein junger Mann voll positiver Energie, der am Ende in den Kampfanzug schlüpft. Die in der Vorlage offene Frage, ob dieser Che mit Nachnamen Guevara heißt, lässt sich in Ulm bereits optisch mit einem Ja beantworten. (In kommenden Vorstellungen sind zum Teil Maria Rosendorfsky als Evita und Philipp Hägeli als Che zu sehen.)

    Evita, Juan Perón, Che: Um diese drei Personen kreist das gesamte Stück, die anderen Figuren sind kaum mehr als Staffage, auch wenn beispielsweise Luke Sinclair als schmieriger Tangosänger und Marisa Hartelt als sensible minderjährige Geliebte Peróns starke Auftritte haben. Der Star der Show ist aber die Masse, denn während das unter anderem mit Keyboard und (E-)Gitarre verstärkte Philharmonische Orchester (Leitung: Hendrik Haas) versteckt in der Burg musiziert, tummeln sich auf der Bühne zeitweise mehr als 100 Akteure: Opern- und Extrachor, das Ballettensemble (Choreografie: Gaëtan Chailly), zwei Kinderchöre und als „Los Descamisados“ („Hemdlose“) eine ganze Truppe von Amateursängern und -tänzern, die zwar nicht immer südamerikanische Leichtigkeit verbreiten, aber dennoch eine tolle Leistung zeigen.

    Sie müssen es auch, denn die Bühne (Ausstattung: Petra Mollérus) bietet für das Auge praktisch nichts: Der Aufbau ist kaum mehr als ein Baugerüst mit ein paar Treppen daran. Wenn es bei der Aufführung etwas zu beweinen gibt, ist es diese Kargheit, die gerade in der ersten Hälfte, wenn die Abendsonne noch den Spielort erhellt, ins Auge fällt. Bei den Kostümen geht die Produktion auf Nummer sicher, die Outfits passen in die Zeit der echten Evita.

    Das Orchester bewältigt Andrew Lloyd Webbers Musik gut bis sehr gut, wobei der anfängliche Wind nicht nur die Frisuren der Zuschauer, sondern auch die Akustik auf der Freilichtbühne unangenehm verweht; als er sich beruhigt, stimmt auch der Klang. An den musikalischen Schwächen des frühen Webber-Werks ändert das allerdings nichts: Die bekannten Balladen sind bester Musicalkitsch, die Dissonanzen in den Politszenen wirken aber aufgesetzt, die Rock-Elemente sind schlecht gealtert – und zur argentinischen Musikkultur findet „Evita“ kaum einen Bezug, von etwas Tango-Ramtamtam abgesehen. Schade ist, dass man sich in Ulm nicht getraut hat, die englische Originalfassung zu spielen, denn die steifen deutschen Texte („Dieses Treffen war nicht eingeplant, ich lass dem Schicksal einfach seinen Lauf“) nehmen diesem Musical viel von seinen Pop-Qualitäten.

    Dennoch: Mit dieser unter dem Strich gelungenen Inszenierung ist für das Theater Ulm ein erfolgversprechender Sommer angebrochen.

    „Evita“ wird bis 17. Juli auf der Wilhelmsburg gespielt.

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