Startseite
Icon Pfeil nach unten
Kultur
Icon Pfeil nach unten

Theater-Premiere: "Lear" in München: Eine Naturstudie der königlichen Familie

Theater-Premiere

"Lear" in München: Eine Naturstudie der königlichen Familie

    • |
    Lear (Christian Gerhaher) ist nicht nur ein Insektensammler, er selbst – und seine bucklige Verwandtschaft – geben auch Anlass zur genauen Betrachtung, wenn nicht Sezierung. Am Boden schon tot: die einzige Tochter, die ihn wirklich liebte: Cordelia (Hanna-Elisabeth Müller).
    Lear (Christian Gerhaher) ist nicht nur ein Insektensammler, er selbst – und seine bucklige Verwandtschaft – geben auch Anlass zur genauen Betrachtung, wenn nicht Sezierung. Am Boden schon tot: die einzige Tochter, die ihn wirklich liebte: Cordelia (Hanna-Elisabeth Müller). Foto: Wilfried Hösl

    Daran kann sich selbst der Schauspiel- und Opern-Aficionado nicht erinnern: Dass er Lear, King Lear aus Shakespeares Schreibstube, jemals als einen Käfer-Sammler erlebt hätte. Aber das ist er jetzt hier an der Bayerischen Staatsoper in der ersten Opernpremiere seit knapp neun Monaten vor Publikum in Schachbrett-Sitzanordnung.

    Der Wucht dieser Doppeltragödie kann man sich kaum entziehen

    Mehr noch: Lear mitsamt seiner charakterlich höchst durchwachsenen Familie – dies zeigen ausdrücklich erste wie letzte Szene – ist quasi selbst so ein naturwissenschaftliches Studienobjekt, ein rares Exemplar aus dem gehobenen britischen Insektenreich, ausgestellt erst einmal für Museumsbesucher in einer Vitrine – nebst weiteren pittoresken Vertretern der Gattung. Aufgefordert also wird das nachgewiesen getestete, nachgewiesen geimpfte, nachgewiesen genesene Publikum zum genauen Studium eines Sammelsuriums in einem Kabinett voller Abnormitäten.

    Shakespeare hat diese aufeinanderprallen lassen, und Aribert Reimann hat ihnen in „Lear“ hochexpressiven Gesang über einem sich katastrophisch auftürmenden Orchester gegeben – in dieser Literatur-Oper, die eines der wenigen Nachkriegsmusiktheaterstücke von Welterfolg repräsentiert. Große und kleine Häuser etlicher Länder haben sie seit der Uraufführung 1978 zwischen San Francisco und Tokyo nachgespielt; ihrer Wucht als Doppeltragödie zu den Themen Erbschaftsfamilienkrieg und Machtgeilheit kann man sich kaum entziehen.

    "Lear" von Aribert Reimann: Zwischen Erbschaftsfamilienkrieg und Machtgeilheit

    Und dieser Welterfolg ging 1978 vom nämlichen Ort aus, von der Bayerischen Staatsoper, wo nun 43 Jahre später das Werk des heute 85-jährigen Komponisten neuinszeniert wurde. Hatte seinerzeit Jean-Pierre Ponelle den Lear und seine Familienbande in eine illustrative, „natürliche“ Heidelandschaft gestellt, so begegnet ihm Christoph Marthaler – wie es eben seine Art war, ist und bleibt – entschieden artifiziell. Lear: ausgestellt und ausstellend in einem Naturkundemuseum, das schon bessere Tage gesehen hat (Bühne: Anna Viebrock in eingespielter Kooperation). Der König will als Sammler und Exotikum sein Reich vererben; zweien seiner Töchter aber geht es um deutlich mehr: Herrschaft und Macht, am liebsten allein.

    Das Ende ist bekannt: ein Geblendeter und mehr als eine Handvoll Tote. Sie können als Ausstellungsstücke gleich an Ort und Stelle verbleiben – und werden tatsächlich zum Finale auch wieder von einem Hausmeister/Museumsführer einem Grüppchen interessierter Besucher mit Audio-Guide zur Ansicht vorgeführt. Dann löscht er am Sicherungskasten das Licht – und neuerlich, nach gut 40 Jahren, gibt es widerspruchslose Ovationen für dieses musikalische Erdbeben, zu dessen Abschluss des ersten Teils Aribert Reimann 1977 notierte: „Bin total erschöpft“ – und nach Abschluss des zweiten Teils: „Hätte es nicht länger ertragen können.“

    "Lear" in der Staatsoper: Distanz zum Bühnennaturalismus bleibt allzeit spürbar

    Dass nun Marthaler diese Familientragödie als einen durchaus gekünstelten Gegenentwurf zur Uraufführungsregie in Szene setzte, führt in gewisser Weise auch zu Shakespeare zurück. Reimann vertonte einen Extrakt des Schauspiels, praktisch die geraffte, nüchterne, brutale Botschaft in meist harten Schnitten Schlag auf Schlag. Doch durch Marthalers bekannte Skurrilitäten werden dem Stück gewissermaßen durch die Hintertür des Naturkundemuseums das Groteske, Absurde, Wahnhafte Shakespeares zurückgegeben. Und auch ein Stich ins Gelähmt-Albtraumhafte kommt hinzu. Hier bringt der Hausmeister im Kittel genervt das aufgerissene Museumsparkett wieder in Ordnung; dort sterben und erstarren verrenkt die garstigen Töchter Goneril und Regan im Stehen. Sie brauchen zur künftigen Präsentation nicht mehr groß ausgestopft zu werden.

    Marthalers Inszenierung ist auch wieder eine kleine Abhandlung über Verhaltensauffälligkeiten und Kauze, Unika und traurige Gestalten – so, wie sie gleichzeitig das Genre Oper einem leicht verstaubten Museum anheimgibt. Distanz zum Bühnennaturalismus bleibt allzeit spürbar – wobei dies im ersten Teil und zum bösen Ende hin besser funktioniert als zu Beginn des zweiten Teils, da sich mit dem Öffnen und Kreiseln von Transportkisten auf Rollen doch ein wenig der Eindruck szenischer Füll- und Verlegenheitsaktionen einstellt. Insgesamt dennoch: eine bildstarke Alternativ-Vision zur Uraufführungsinszenierung.

    "Lear" in München: Christian Gerhaher überzeugt bei Klang und Verständlichkeit

    In dieser sang und spielte Dietrich Fischer-Dieskau den Lear. Er hatte Reimann überhaupt erst zur Komposition bewegen können. Jetzt ist aus mehreren Gründen Christian Gerhaher sein legitimer Nachfolger, den Intendant Nikolaus Bachler überhaupt erst zur Übernahme der Partie sanft schieben musste. Auch weil das zweieinhalbstündige Werk im Grunde vokale Grenzüberschreitungen zumutet. Anzusingen ist gegen ein unter Hochdruck detonierendes Orchester.

    Aber so, wie Marthaler in gewisser Weise die Tragödie domestiziert, so domestiziert nun – wenn die Erinnerung an die Uraufführungseinstudierung nicht trügt – Jukka-Pekka Saraste die großartig-gewaltvolle Partitur. Damals: ein über alles hinwegdonnernder Orkan. Jetzt: Abstufung, Ausdifferenzierung des Staatsorchesters. Gerhaher mit seinem Maximum an Klang bei einem Maximum an Textverständlichkeit wird Einfluss darauf gehabt haben. Stimmstark auch die Töchter Goneril (Angela Denoke), Cordelia (Hanna-Elisabeth Müller) und Regan (Ausrine Stundyte). Geboten verstörend der Narr von Graham Valentine.

    Nächste Aufführungen: 26. und 30. Mai, 3. und 7. Juni

    Lesen Sie außerdem:

    Diskutieren Sie mit
    0 Kommentare
    Dieser Artikel kann nicht mehr kommentiert werden