Es liegt nahe, sich den Hans-Guck-in-die-Luft heute mit dem Smartphone in der Hand vorzustellen. Seinen Blick hat er nicht in den Himmel gerichtet, son-dern auf den Bildschirm.
Aber nicht nur dieser Hauptdarsteller aus dem „Struwwelpeter“ hat Kinderbuchautoren und Zeichner bis in die heutige Zeit inspiriert. Der „Struwwelpeter“ ist insgesamt eine weltweite Erfolgsgeschichte.
1845 – also vor 175 Jahren – war das Buch erstmalig in gedruckter Form erschienen. Der Frankfurter Arzt Heinrich Hoffmann (1809–1894), der mit dem Angebot an Kinderliteratur unzufrieden war, hatte sich kurz entschlossen selbst ans Werk gemacht. Was er für seinen dreijährigen Sohn gezeichnet und gereimt hatte, war nicht nur neu, sondern auch wegweisend. Dass der „Struwwelpeter“ seinen Siegeszug antreten konnte, ist auch dem Verlag Rütten & Loening zu verdanken, der das Werk erstmals publizierte. Hoffmann versteckte sich damals noch hinter dem Pseudonym Reimerich Kinderlieb und wählte den – für heutige Maßstäbe – etwas ungelenken Titel „Lustige Geschichten und drollige Bilder“. Erst ab der dritten Auflage – und die musste schon bald in Druck gehen – lautete der Titel „Der Struwwelpeter“.
Wo einst Goethes Tante, namens Melber, wohnte
Passend zum Jubiläum hat der Struwwelpeter im Herbst ein neues Zuhause bezogen. Den Frankfurter Bub kann man nun in der wieder aufgebauten Altstadt, zwischen Dom und Römer, besuchen. Das dortige Struwwelpeter-Museum erinnert auch an Struwwelpeters Weggefährten: Zappelphilipp und Suppenkaspar, den bösen Friederich und Paulinchen. Darüber hinaus hat der multitalentierte Urheber einen ihm gebührenden, großen Auftritt.
Das Frankfurter Museum, das seit 1977 an weniger prominenter Stelle und mit geringerem Platzangebot gearbeitet hatte, fand sein neues Domizil in zwei Häusern der Altstadt. Ihre Fassaden wurden denen nachempfunden, die im Zweiten Weltkrieg zerstört worden waren. Einst hat hier Goethes Tante Melber gelebt.
Das interaktiv ausgelegte Struwwelpeter-Museum spricht Kinder wie Erwachsene gleichermaßen an. Man wird in die Zeit der Entstehung des Kinderbuchs geführt – in den Biedermeier, jene Jahre, in denen der Heiligabend zum Familienfest mit Baum und Bescherung geriet. Man erfährt auch von den Veränderungen, die Hoffmann an seinen Zeichnungen vornahm. So trägt der Struwwelpeter erst seit 1861 seinen markanten Afrolook. Und man staunt über den weltweiten Erfolg des „Struwwelpeter“ – inklusive Lob von höchster Stelle, von Kaiser Wilhelm I. und Zar Alexander. 1876 kam bereits die 100. Auflage auf den Markt. Übersetzt wurde das Buch in 40 Sprachen und 80 deutsche Dialekte.
Der Struwwelpeter war ein Kind seiner Zeit – und war dieser doch weit voraus. „Die Geschichten ge-hen vom Bild aus, der Text ist zweitrangig“, beschreibt die Museumsleiterin Beate Zekorn von Bebenburg den neuen Ansatz Hoffmanns. „Er hat damit einen Vorläufer des Comics geschaffen.“ Mit allen Figuren kreierte der Mediziner Prototypen menschlichen Verhaltens, die bis heute lesbar sind – etwa Zappelphilipp (Hyperaktivität) und Suppenkaspar (Magersucht). Zudem wurden viele Textpassagen zu Bestandteilen des kollektiven Gedächtnisses.
Aber was ist dran an dem immer wieder erhobenen Vorwurf, die darstellerische Brutalität schockiere die Kinder – etwa, wenn dem Daumenlutscher Konrad die Daumen abgeschnitten werden? „Kinder müssen unterscheiden lernen, was real und was fiktiv ist“, meint die Museumsleiterin. Der Autor aber sah es so: „Das Kind lernt einfach nur durch das Auge, und nur das, was es sieht, begreift es. Die Mahnung: Sei reinlich! Sei vorsichtig mit dem Feuerzeug! Sei folgsam! Das alles sind leere Worte für das Kind.“
Vor allem in der Hochphase der antiautoritären Erziehung in den 70er Jahren geriet das Buch in die Kritik. F.K. Wächters „Anti-Struwwelpeter“ drehte den Spieß um und überließ den Kindern die Macht. Doch nicht die Kritik, sondern die Adaption zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte des Kinderbuchs. Es soll weit über 1000 Nachahmungen geben – für Kinder wie für Erwachsene.
Auch eine Struwwelliese trat erstmalig Ende des 19. Jahrhunderts auf den Plan. 1941 erblickte der „Struwwelhitler“ das Licht der Welt – mit Blut an den Fingern. Und in der DDR gab es eine Interpretation mit der „eigensinnigen Ulrike“ und dem „fernsehverrückten Frank“. Das Musical „Shockheaded Peter“ zeigt seit 20 Jahren, dass der Struwwelpeter auch in anderen Genres Erfolge feiern kann.
Dies alles erfährt man im neuen Museum, das aber nicht nur ein kulturgeschichtliches Phänomen beleuchtet, sondern auch Kinder zu unterhalten weiß. Beispielsweise können sie im Theaterzimmer in die Kostüme aus den „Struwwelpeter“-Geschichten schlüpfen. Wer sich traut, hinter die Vitrinen zu schauen, findet Überraschendes wie eine stille Leseecke, in der man in den Werken des Frankfurter Arztes schmökern kann.
Autor Dr. Hoffmann war Leitereiner Anstalt für Irre und Epileptiker
Neben dem Struwwelpeter ist dieser Autor Heinrich Hoffmann der zweite Hauptdarsteller im neuen Museum. Es erinnert an seine bedeutende Persönlichkeit. „In erster Linie wirkte er als Reformpsychiater“, blickt Beate Zekorn von Bebenburg auf das Leben des Frankfurters zurück. Er war 1851 zum Leiter der „Anstalt für Irre und Epileptische“ bestellt worden und hatte das Prinzip des Wegschließens der Kranken hin zu medizinischer und therapeutischer Behandlung geändert. Hoffmann war Abgeordneter im Vorparlament in der Paulskirche und wirkte ehrenamtlich im Kunstmuseum Städel. Und wenn noch Zeit blieb, hielt er politische Reden und schrieb Gedichte sowie Theaterstücke.
Das – private – Struwwelpeter-Museum wird übrigens als Inklusionsbetrieb geführt – fünf Arbeitsplätze für Behinderte sind bereits geschaffen worden. Im gut sortierten Shop wartet nicht nur die Badeente „Struwwelpeter“ auf Käufer, sondern auch die Grillanzünder „Paulinchen“. Viele der Produkte werden in Werkstätten für behinderte Menschen hergestellt. So lebt im neuen Altstadt-Zuhause des Struwwelpeters auch das reformpsychiatrische Erbe seines Schöpfers Dr. Hoffmann weiter.
Struwwelpeter-Museum: Hinter dem Lämmchen 2–4, geöffnet Di. bis So. von 10 bis 18 Uhr; Eintritt sieben Euro, 069/747969, www.struwwelpeter-museum.de.