Startseite
Icon Pfeil nach unten
Kultur
Icon Pfeil nach unten

Straßenkunst: Graffiti aus den 1970ern: Ein wirklich schönes Verbrechen

Straßenkunst

Graffiti aus den 1970ern: Ein wirklich schönes Verbrechen

    • |
    Fünf Beispiele für originelle Sprüche aus dem Stadtraum von Zürich der 1970er- und 1980er-Jahre.
    Fünf Beispiele für originelle Sprüche aus dem Stadtraum von Zürich der 1970er- und 1980er-Jahre.

    „Keine Autos mehr, sie stinken“ „Wie der Wind aufhört zu drehen, so hören wir auf zu leben“ „Schöne Arschnachten ihr Weinlöcher“ „Lieber Lesbisch vom Esstisch als locker vom Hocker“ „Nieder mit dem Bankgeheimnis“ „alles ist gut – nichts richtig“ „Stadt machen Seele kaputt“ „Ich möchte so doof wie Travolta sein“ „Unsere Sprays könnt ihr übertünchen – unsere Träume nicht!“

    Poesie, Protest, Anarchie, Spiel, Provokation. Es war einmal eine Zeit, eine Blütezeit für solche Sätze. Sie tauchten über Nacht auf in der Stadt. Sie standen auf Straßen, Beton, Fassaden, Mauern, Autos und Schaufensterscheiben, hingesprayt von Leuten, die wie Phantome sind und höchst selten erwischt werden. Es sind Spontisprüche, Losungen der Stadtindianer, Blödeleien und absurde Parolen, natürlich auch Politisches wie „Zerschlagt die Nato“ oder „AKW nein“. Berlin? Frankfurt? Nein, wir sind in Zürich.

    Eine Kartei offenbart den kafkaesken, zwanghaften Charakter der Bürokratie

    Auch die Schweiz kann Aufmüpfigkeit und Studentenrebellion. Zürich gerät in den Sog der Veränderungen, welche die 68er-Bewegung ausgelöst hat – die Stadt als Protestraum.

    Alles, was die Beamten vom Kriminalkommissariat III der Stadt Zürich machen können, ist, die Graffiti und Tatorte zu fotografieren, zu dokumentieren und in ihrer geheimen Kartei abzulegen, die sie 1976 angelegt haben. Die hat den Namen „Schmieren/Kleben“ und wird akribisch geführt in der Schweizer Metropole, wo man Angst hatte vor der Entstehung einer „Schweizer RAF“. 2000 Fotos, fast alle in schwarz-weiß, umfasst die Sammlung des KK III, als sie Ende der 1980er Jahre im Zuge der Aufklärung eines Bespitzelungsskandals aufgegeben werden muss und dann ins Stadtarchiv Zürich wandert.

    Graffiti sind flüchtig, haben keine Dauer. „Die Polizei hat in diesem Fall ihrem Ruf als Freund und Helfer alle Ehre gemacht. Den Interventionisten nahm sie die mühselige Arbeit der Dokumentation und Archivierung ab“, meint der Kunstwissenschaftler Jörg Scheller. Es ist eine einzigartige Dokumentation, die in klassischen, amateurhaft-bemühten Tatortfotos zeigt, was wo gesprüht wurde, „als die Spraydose nach Zürich kam“. Und mehr als das. Die Kartei offenbart auch den kafkaesken, zwanghaften Charakter der Bürokratie. Man sieht sie vor sich, die Beamten der Stadtpolizei, wie sie 13 Jahre lang Karteikarte um Karteikarte in die Schreibmaschine spannen und stoisch tippen, was an Neueinträgen im öffentlichen Raum gesichtet und gesichert worden ist. „Schlüsselgasse 16 – Fassade – 3./4. 2.82, 18.30-08.30 – schwarzer Spray: Bildet Banden“. Oder: „Neumünsterstraße 10 – Kirchenfassade – 7./8.1.81, 19.30-10.00 – hellbl. Spray: Die Kirche versagt immer“. Aus zeitlichem Abstand betrachtet hat diese

    „Fabelwesen“ von Harald Nägelibevölkerten die Stadt

    Wie in einer Zeitkapsel ist die Szene der späten 1970er und der 1980er Jahre in der Polizeikartei „Schmieren/Kleben“ konserviert. Nun hat der Schweizer Verlag Edition Patrick Frey aus diesem Material einen gewichtigen und einzigartigen Bildband gemacht, mit 600 Abbildungen. Das Buch im Neckermannkatalog-Format mit dem dokumentarischen Titel „Schmieren/Kleben“ ermöglicht eine Reise zurück in eine bewegte Zeit des Aufbruchs, in der in Zürich um autonome Jugendzentren und gegen alte Autoritäten gekämpft wurde und ein Mann namens Harald Nägeli hunderte von Strichfiguren und „Fabelwesen“ (Karteikartenbezeichnung im KK III) an Wänden der Stadt hinterließ.

    Als „Sprayer von Zürich“ wurde Nägeli eine berüchtigte Berühmtheit und Symbolfigur einer alternativen Kultur, die das bürgerliche Establishment nervös machte, aber auch ziemlich hilflos aussehen ließ. Das lag auch daran, dass die Sprayer mehr und mehr mit Witz, Selbstironie und dadaistischer Sprachlust unterwegs waren statt mit simplen Polit-Parolen. Sie sprayten Sätze wie „Es leben die schwarzen Schafe“, „Sonne auch im Klassenzimmer“, „Nieder mit dem Fahrstuhl“, „Nur tote Fische schwimmen mit dem Strom“. Internationale Solidarität („Verhindert die Ausweisung der türkischen Revolutionäre“) und lokaler Dialekt sind in dieser Bewegung kein Widerspruch, wie solche Wandsprüche zeigen: „E Frau ohni Maa isch wiänan Fisch ohne Velo“.

    Ein Dialog mit der Spraydose:Gott ist tot!  -  Aber Bakunin lebt!

    Wie sehr Zürich Ende der 70er-Jahre in Bewegung war, lässt sich auch an der Interaktion ablesen, die auf den Betonwänden stattfand. Wo einer „Gott ist tot!“ gesprayt hat, ergänzt Tage später ein anderer: „Bakunin lebt!“ Die Szene machte den öffentlichen Raum zu ihrer Art von Goldenem Buch der Stadt.

    Inzwischen ist auch Zürich Schauplatz einer anderen Straßenkultur. „Tags, Fußballklub-Namen und Aufkleber“ bestimmen das Bild, heißt es in der Fachstelle für Graffiti im Hochbauamt. Und statt eines Kommissariats III, das erfasst, gibt es die Organisation „Für es schöns Züri“, 83 Mann, die „rund um die Uhr putzen, übermalen und hochdrucksandstrahlen.“

    Was aber nicht ausradiert werden kann, ist die Kartei „Schmieren/ Kleben“, in der sich auch dieser Spruch findet, 1988 an ein Schulhaus gesprayt: „Graffiti is not vandalism but a beautiful crime“ – Graffiti ist kein Vandalismus, sondern ein schönes Verbrechen.

    Schmieren/Kleben. Aus dem Archiv KKIII der Stadtpolizei Zürich. Edition Patrick Frey, Zürich, 592 Seiten, 70 Euro

    Diskutieren Sie mit
    0 Kommentare
    Dieser Artikel kann nicht mehr kommentiert werden