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Stilkritik: Da wird ein Hemd „entknöpfelt“: Woran man gute Literatur erkennt

Stilkritik

Da wird ein Hemd „entknöpfelt“: Woran man gute Literatur erkennt

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    Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die zu lesen sich lohnt: (von links) Alfred Polgar, Bettine von Arnim, Heimito von Doderer.
    Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die zu lesen sich lohnt: (von links) Alfred Polgar, Bettine von Arnim, Heimito von Doderer. Foto: Picture Alliance, dpa

    An ihren Sätzen sollt ihr sie erkennen! Ob das gelingt? Hier eine Probe aufs Exempel:

    „Der Briefträger kam. Ich hörte die Post durch den Schlitz fallen, rührte mich aber nicht. Niemals erwarte ich Briefe. Der einzige Mensch, der mir einen wichtigen Brief schreiben könnte, bin ich selbst, und so wird er auch nie geschrieben werden.“

    Ist das von Karl Valentin, Marlen Haushofer oder Walter Serner? Schieben wir die Auflösung einen Moment auf. Jedenfalls lässt die kurze Passage aufhorchen, sie setzt einen ungewohnten Ton. Spricht aus ihr Resignation, eine verzweifelte Komik?

    Wodurch geben sich Autorinnen und Autoren zu erkennen? Schwelgen sie im Beiwort (wie Robert Walser), pflegen sie weit ausholende Bögen oder den Stummelsatz? Beherrschen sie die Kunst der Geräuschwiedergabe (wie Brigitte Kronauer, Thomas Mann oder Heimito von Doderer), den tiefsinnigen Dialog (unübertroffen Kleist im „Amphitryon“)? Der Leser mag sich an Eigenheiten und Merkwürdigkeiten halten – an das nachgestellte „sich“ bei Adorno; das im Zwiegespräch unbeirrt wiederkehrende „versetzte er“, „versetzte sie“ in Goethes „Wahlverwandtschaften“; Fontanes Vorliebe für die Wendung „oder doch“; oder, etwas umfassender gesehen, das Pedantische, ja Zwanghafte in Stifters Prosa, in der sein Herausgeber Wolfgang Matz einen Panzer gegen Ängste und Obsessionen vermutet. Der Philosoph Peter Sloterdijk wiederum schreibt von Stifters „Beschönigungstrotz“.

    Wo Sprache und Gedanken ineinanderfließen: Was gute Literatur ausmacht

    All das mögen Hinweisschilder sein. Sie führen mal zum Ziel, mal in die Irre. Schließlich ist der Stil ein komplizierter (chemischer) Prozess aus Klang-, Sprach- und Gedankenfluss, aus Bild und Einfall. Und welcher bedeutende Autor hält denn sein Werk lang an einer Schreibweise fest?

    Was ist das Geheimnis guter Literatur? Diese Kardinalfrage ist für den Schriftsteller und Kritiker Michael Maar der Schlüssel zu seinem Bücherschrank. Aus ihm greift er deutschsprachige Literatur von Goethe und Kleist bis zu Thomas Bernhard, Eckhard Henscheid und Botho Strauß. Vor uns liegt die Quintessenz einer jahrzehntelangen Lektüre, ein so kurzweiliger und vergnüglicher wie erkenntnisreicher Literaturkursus aus Zitat und Betrachtung, viele Seitensprünge inbegriffen. Maar, 1960 geboren, mit dem Heinrich-Merck-Preis und dem Heinrich-Mann-Preis geehrt, in Berlin zuhause, hat Esprit. Sein bestechend formuliertes Urteil wischt Gewissheiten beiseite, verweist manchen Platzhirsch des Feldes, lässt Mauerblümchen neu erblühen.

    Dem Kritiker Michael Maar muss man nicht überall folgen

    Das ist immer erfrischend, auch wenn man nicht jedem Verdikt folgen muss. „Als Stilist“, so lesen wir, „ist Novalis – gegen Hebel, gegen den Titan Jean Paul, gegen Joseph von Eichendorff, gegen Brentano, gegen Rahel Varnhagen, gegen Kleist erst! – ein unendlich liebenswürdiger und rührender Tropf.“ Oder: „Lieber eine halbe Seite Polgar als hundert Seiten ,Tod des Vergil‘“ (von Hermann Broch). Oder: Für Hildegard Knefs Memoiren „Der geschenkte Gaul“ gäbe er die ganze „Kassandra“ (von Christa Wolf).

    Michael Maar erklärt, woran sich gute Literatur erkennen lässt.
    Michael Maar erklärt, woran sich gute Literatur erkennen lässt. Foto: dpa

    Maar stellt seinen Spaziergang durch die Bücherwelt unter den Titel „Die Schlange im Wolfspelz“. Aber genau mit solchen Verdrehungen hantiert die Autorin in ihrem Debütroman „Vienna“ und setzt dadurch ihre Figuren ins leicht schräge Licht.

    Von Redensarten kommt man schnell zu den Phrasen, die wie Automatismen durch die Sätze laufen: auf Augenhöhe, über den Tellerrand, im Elfenbeinturm... Karl Kraus hat gefordert, für jede „erlegte Phrase“ eine Belohnung auszusetzen. Floskeln hie, exzentrisches Wortgeklingel da sind ein gefundenes Fressen für Parodisten (wie Robert Gernhardt und Robert Neumann). Von Gernhardt kursiert die Anekdote, er habe im Abitur mit der Deutung eines Trakl-Gedichtes („Die Pendel brauner Uhren nicken leise …“) beeindruckt. Nur war das Gedicht nicht von Trakl, sondern vom jungen Gernhardt.

    Auch Autorinnen kommen bei Michael Maar nicht zu kurz

    Auch mit solchen Köstlichkeiten und biografischen Schlaglichtern glänzt Maars durch die Hoch- und Tiefebenen, durch barocke Überfülle wie mönchische Dürftigkeit navigierende Lese- und Stilverführung. Wer wird unterschätzt? Hier macht der Kritiker eine respektable Liste auf. Marlen Haushofer zählt eher nicht dazu – von ihr übrigens stammt das postalische Eingangszitat (aus „Wir töten Stella“). Eher schon hoch gebildete Briefschreiberinnen wie die Varnhagen und Bettine von Arnim, Schwester von Clemens Brentano (Bettine hatte es sich mit dem verehrten Goethe verscherzt, als sie dessen Frau Christiane als „toll gewordene Blutwurst“ beschimpfte.) Man könnte fortfahren mit Marie von Ebner-Eschenbach, Regina Ullmann, Alexander Lernet-Holenia, Leo Perutz …

    Michael Maar schaltet ein Kurzkapitel über die Lyrik ein und führt uns dann – offenen Auges – in die literarischen Feuchtgebiete der Erotik. Hier allerdings ist angesichts der (angestrengten) Aussparungen, Umschreibungen, Unschärfen, der fremdgängerischen Fantasien und ungenierten Zugriffe mehr denn je Stil gefragt. Schön, wie Doderers Held in der „Strudlhofstiege“ Edithas „weißes Sporthemd entknöpfelte“, noch schöner der Sex auf dem Friedhof in Ulrich Bechers Roman „Murmeljagd“ – den „niemand, der ihn gelesen hat, je wieder vergißt“.

    Michael Maar schärft in beispielhafter Fülle den Blick für Stil und Stilblüten, für große und weniger große Literatur, wohl wissend, dass diese ihr Geheimnis für sich behält.

    Buch Michael Maar: Die Schlange im Wolfspelz. Das Geheimnis großer Literatur. Rowohlt, 655 S. (mit Anmerkungen, Quiz-Auflösung, Literaturverzeichnis und Register), 34 €.

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