Die Schelmen-Novelle "Landesbühne", eine wohldurchwirkte Komposition von Humor und Lebensweisheit, hat der 83-jährige gebürtige Ostpreuße wie viele seiner Werke in der norddeutschen Provinz angesiedelt. In einem Wortlaut-Interview mit der Deutschen Presse-Agentur (dpa), geführt im Hamburger Hoffmann und Campe Verlag, dem der Autor seit seinen schriftstellerischen Anfängen treu geblieben ist, spricht Lenz über sein neues Werk und sein Selbstverständnis als Schriftsteller.
Ihre Novelle "Schweigeminute" war im vergangenen Jahr ein Riesenerfolg bei Kritikern und Lesern. Welche Erwartungen haben Sie an Ihr neues Buch "Landesbühne", sind Sie zufrieden?
Lenz: "Wenn ich mit meinem neuen Buch unzufrieden wäre, hätte ich es meinen Freunden im Verlag nicht gebracht. Ich habe ein wenig umgeschrieben, was dazu gehört, und ich habe dann bei der Schlusskorrektur mit (Verlagschef) Günter Berg - übrigens auf einer Sonnenterrasse in Dänemark - mir gedacht, doch es geht so."
Bleibt der Blick auf das eigene Werk stets unverändert?
Lenz: "Ich habe 1951 ein Buch geschrieben, damals war es ein Titel mit einem ganzen Satz "Es waren Habichte in der Luft". Mein Verleger hat mich eingeladen, das Buch noch einmal zu lesen, im Hinblick darauf ein Vorwort zu schreiben oder ein Nachwort. Ich habe gemerkt, dass ist eine prekäre Einladung, denn du wirst bestimmt versucht sein, nach mildernden Umständen für den jungen Mann zu forschen, der du einmal warst. Du wirst bemüht sein, das Buch umzuschreiben, neu zu schreiben, hier und da noch einmal vehement zu korrigieren. Da hab ich gedacht, nein, tu' das nicht, lass' es passieren, lass' es so wie es ist. Das Buch entsprach den jeweiligen Möglichkeiten, die du als Schriftsteller hattest, der jeweiligen Möglichkeit dich auszudrücken, der jeweiligen Möglichkeit zu erfinden, lass' es so. Dokumentarisch. Ich hab es so gelassen. Ohne Vorwort, ohne Nachwort."
Ein Grundsatz, der auch für die "Landesbühne" gilt?
Lenz: "Genau so ist es hier bei diesem Buch, ich war überwiegend zufrieden, aber mit dem geheimen Argwohn, dass ich eines Tages dahin kommen könnte, das Buch anders zu fassen, anders zu schreiben."
Was erwartet den Leser in Ihrem Buch?
Lenz: "Es ist eine Novelle. Eine Novelle, in der ich versucht habe, Menschen nachzustellen. Es sind Insassen einer kleinen, sonderbaren Gefängnisformation in Isenbüttel, wo ein kunstsinniger Direktor herrscht und alles leitet. Diese Insassen beschließen, als eine Landesbühne mit einem Stück oder auch zwei Stücken dort erscheint, zu fliehen. Sie fliehen zu einem Zeitpunkt, als in der kleinen Stadt Grünau ein großes Nelkenfest gefeiert wird. Die Gefangenen mit sehr unterschiedlichen Vergehen werden willkommen geheißen..."
...und blühen in Freiheit auf
Lenz: "Es ist auch eine Verwechslungsgeschichte. Die Insassen werden als das genommen, was sie nicht sind. Sie werden in dieser kleinen Stadt mit Tätigkeiten belohnt, von denen sie sich nie haben träumen lassen. Der Professor wird Vorträge halten, auch in seinem alten Fach über Sturm und Drang, einer wird Hausmeister in einen Heimatmuseum. Der Schiedsrichter, ein Ganove sondergleichen, wird noch einmal ein großes Fußballspiel pfeifen."
Das ist der Rahmen. Beim Lesen des Buches entsteht jedoch der Eindruck, dass Sie wie in Zeitraffer Bilanz ziehen, was ihre Lebenssicht oder Lebenseinsicht angeht. Die Novelle erscheint als Plädoyer für den Existenzialismus. Dem Einzelnen, egal in welcher Situation er ist, bleiben Menschenwärme, Menschengüte oder Herzenswärme als Maximen. Jenseits von Religion, jenseits von Ideologien scheint es die einzige verlässliche Sichtweise, das Leben anzunehmen. Teilen Sie diese Interpretation?
Lenz: "Erlauben Sie mir mit einem einzigen Wort zu antworten: Ja! Ich werde immer Ihre Ansicht als eine mögliche Interpretation verteidigen, weil nicht ausgeschlossen ist oder sein dürfte, das ist meine Auffassung von der Interpretierbarkeit der Literatur, dass es zu einem anderen summing up kommt, zu einem anderen Lektüre-Fazit. Aber ich finde Ihre Auslegung sehr gut, sehr triftig. Ich habe sie auch für mich selbst erwogen."
Die Insassen sitzen anfangs im Gefängnis, sie fliehen und blühen draußen auf, spielen und singen auf der Bühne. Im Publikum sitzt dann der Gefängnisdirektor neben einem Gefangenen. Ist das überinterpretiert, wenn man sagt, dass viele im Gefängnis ihrer eigenen Rollen leben?
Lenz: "Es ist eine literarische Praxis. Du schreibst etwas, und das Geschriebene weist über sich selbst hinaus."
Neu in diesem Buch scheint eine relativ offensive Auseinandersetzung mit Gott. Nicht aus Zufall lassen sie den Chor der Geflohenen in Grünau singen "Wem Gott will rechte Gunst erweisen" - "nicht hoffnungsvoll oder tröstend, sondern fordernd und erwartungsvoll", wie Sie schreiben. Später wird Samuel Becketts existenzialistischer Klassiker "Warten auf Godot" gespielt, viele Kritiker meinen, Beckett habe mit Godot Gott gemeint. Und der Leser stößt in dem Werk auf bisher bei Ihnen nicht so häufig vorkommende religiöse Motive wie etwa den Baum des Lebens, der Erkenntnis. Spielt für Sie persönlich Religion eine Rolle und haben Sie das hier thematisieren wollen?
Lenz: "Nein, nicht thematisieren. Auf keinen Fall."
Wollen Sie dem Leser am Ende Nächstenliebe aus christlicher Sicht oder aus existenzialistischer Sicht Mitmenschlichkeit mit auf den Weg geben?
Lenz: "Literatur ist ein Angebot ohne extreme Verpflichtung. Der Leser kann es für sich annehmen oder zurückweisen. Der Leser kann es zu seiner eigenen Angelegenheit machen. Er kann sich abstimmen vor allem mit den Ansichten des Autors, die er überträgt auf etliche erfundene Personen. So freisinnig, freimütig fasse ich Literatur auf."
Interview: Stephanie und Matthias Hoenig, dpa