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Serie: Die Grenzen der Solidarität

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Die Grenzen der Solidarität

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    Elementarkontrast: Diese Plakatmotive (gestaltet von der Agentur KW Neun) illustrieren das zentrale Thema des aktuellen Brechtfestivals.
    Elementarkontrast: Diese Plakatmotive (gestaltet von der Agentur KW Neun) illustrieren das zentrale Thema des aktuellen Brechtfestivals. Foto: Agentur KW Neun

    Es ist, als würden die gleichen Fragen durch die Zeitläufte nur leicht verkleidet wieder vor uns stehen. Bertolt Brecht dachte in sehr vielen seiner Werke darüber nach, dozierte darüber: Wie kann der Einzelne gegen die Macht der Masse bestehen? Wer muss, wer sollte sich für die Leiden der Schwächeren verantwortlich fühlen? Wie kann, wie muss sich die Masse der Schwächeren gegen die Macht organisieren?

    Brechtfestival stellt die Frage nach Abgrenzung und Zusammenhalt

    Und es ist freilich kein Zufall, dass diese Fragen der Abgrenzung und des Zusammenhalts nun, auch als Motto des aktuellen Augsburger Brechtfestivals gewählt, perfekt in die Gegenwart passen. Denn die ideologische Zweispaltung der Welt, Europas, Deutschlands und der Gesellschaft, die vor hundert Jahren begann und das ganze Schaffen des Autors prägte – sie ist nun in neuem Gewand zurück. Die Fronten kristallisieren sich daran: Woher soll der Zusammenhalt zwischen den Menschen kommen? Und wo liegen die Grenzen der Solidarität? Wer heute politisch wo steht, ist genau an den Antworten auf diese Fragen festzumachen.

    An Brechts „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral“ aus der „Dreigroschenoper“ und den Zeiten der Not ließe sich heute anschließen: Was kommt nach Jahrzehnten des Wohlstands noch alles zuerst? Nur das eigene Einfamilienhaus? Oder das eigene Volk? Vielleicht das Wirtschaftswachstum? Oder gleich „America“? Und der Leiter des aktuellen Brechtfestivals, Patrick Wengenroth, knüpfte in seinem Editorial an des Dichters Satz „Das Schicksal des Menschen ist der Mensch“ an: „Ja wir sind es selber, in unserer liebes- und demutlosen Hybris, uns die Welt – in unserem Wahn von Wille und Vorstellung – immer wieder aufs Neue untertan machen zu wollen.“

    Die Ab- und Entgrenzungsgefechte jedenfalls laufen innen- und außenpolitisch. Wo einstmals noch die solidarische Arbeiterbewegung Mehrheiten für Sozialdemokraten international brachten, formieren sich heute erstarkende rechte Blöcke durch nationale Abgrenzung. Was da passiert ist, erklärt derzeit wohl am besten der Kultursoziologe Andreas Reckwitz aus Frankfurt/Oder in seinem Buch „Gesellschaft der Singularitäten“. Er beschreibt einen Wandel der Sozialstruktur: 1. Weniger Industriearbeiter, die im gemeinsamen Aufstieg einst die Mittelschicht formten. 2. In der Folge der breiten Bildungsoffensive höhere Ansprüche bei einer neuen Mittelschicht, die aber gerade auf Selbstverwirklichung und Individualität Wert legt. 3. Immer mehr Beschäftigte im Dienstleistungssektor, die eine neue Unterschicht bilden und mit Wut nach oben und Angst nach unten blicken. Arbeitersolidarität ist hier nicht mehr zu gewinnen, Gemeinsamkeiten für eine Abgrenzung aus Angst sehr wohl. Zumal in einer immer unübersichtlicheren Welt, deren Krisen in Finanzen und Terror, Krieg und Klima nicht mehr so fern wirken. Die zunehmenden Flüchtlingsbewegungen wirken da wie das Fanal des Heraufziehenden.

    Wie sich die Literatur mit dem Mangel an Zusammenhalt beschäftigt

    Aber wie reagieren? Zahlreich sind die theoretischen Mahnungen, hier stoße die Welt auch abseits reiner moralischer Fragen auf Probleme, die kein Staat mehr für sich lösen könne, die nur noch durch Zusammenhalt zu lösen seien. Ebenso zahlreich sind aber auch die Beweise, dass es diesen Zusammenhalt nicht gibt. Die USA raus aus dem Klimaabkommen, die Briten raus aus der EU, die EU ohne gemeinsame Verantwortung an den Grenzen und bei Flüchtlingen …

    Hinzu kommt, was der Inder Pankaj Mishra in seinem internationalen Bestseller „Das Zeitalter des Zorns“ beschrieben hat und so zusammenfasst: „Die ‚Religion‘, die in den vergangenen 200 Jahren herrschte, war, sehr vereinfacht formuliert, der Fortschritt. Der Glaube, dass die Zukunft besser werde als die Gegenwart. Heute können das viele nicht mehr glauben. Menschen, denen das klar wird, wenden sich allzu leicht extremen Idealen zu.“ Um möglichst Ordnung und Sicherheit zu bewahren. Da schaut halt jeder wo er bleibt, oder? Und statt der Hoffnung auf die Vernunft setzt sich die Erkenntnis in Weltwahrnehmung, Angstprojektion und Gegenreaktion durch: „Der Mensch ist ein gefährliches Tier.“ Und auf diesem Menschenbild baut sich grundsätzlich schlechte menschliche Solidarität auf – allenfalls eine der gemeinsamen Abgrenzung.

    Der Individualismus höhlt den Zusammenhalt von innen aus. Günstigstenfalls in der Sammlung von Minderheitsinteressen in digitalen Netzwerken funktionieren Solidarität und Identitätsbildung noch – aufgerichtet an Gegnern im Inneren. Auch die Zersplitterung der Parteienlandschaft erscheint da bloß als logische Folge. Und nach außen höhlt die Konkurrenz den Zusammenhalt aus. Höchstens gemeinsame Interessen bei wachsenden Bedrohungen sorgen noch für Bündnisse – gegen externe Gegner. Zunehmende Spannungen in einer zusehends multipolaren Welt werden unweigerlich die Folge sein.

    Sowohl von der vernetzten, wie von der multipolaren Welt hatte man sich eine weitere Vertiefung des Mitgefühls und der Mitverantwortung erhofft. Ein schöner, wohl nur vorübergehender, inzwischen jedenfalls ausgeträumt wirkender Traum, dass diese beiden Faktoren solidarischen Denkens und Handelns die ideologischen Mauern aus den Zeiten Brechts auflösen könnten. Aber auch im 21. Jahrhundert scheinen die Wegscheiden weiterhin Grenzkonflikte zu sein. Zwischen „Ich“ und „Wir“, zwischen „Wir“ und „die Anderen“. Es bleiben die Kernfragen der politischen Auseinandersetzung.

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