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Retrospektive: Saul Leiter: Der Maler mit der Kamera

Retrospektive

Saul Leiter: Der Maler mit der Kamera

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    New York, 1957: Saul Leiter fotografierte die sonnenbeschienene Hand eines Taxifahrgastes.
    New York, 1957: Saul Leiter fotografierte die sonnenbeschienene Hand eines Taxifahrgastes. Foto: Foto: Saul Leiter

    Er machte das, was gute Straßenfotografen machen: Er setzte sich nicht unter Druck, belastete sich nicht mit einer Philosophie, nahm sich nichts vor. Was er nahm, war bloß seine Kamera. Damit ging er hinaus, trieb sich in New York herum, ohne nach etwas zu suchen. Saul Leiter war nicht auf der Jagd. Er war ein Flaneur mit offenen Augen. „Du bist draußen, du gehst spazieren, du stöberst – aber du weißt nicht, was du bekommst.“

    Saul Leiter (1923 – 2013) war ein Maler, der ab 1948 in Farbe fotografierte. Er malte mit seiner Kamera in den Farben, die ihm auf den Straßen des East Village begegneten: Taxigelb, Regenschirmrot, Ampelgrün, Busblau, Neonviolett, Schaufensterweiß. Seine Motive: Großstadtszenen. Passanten, Autos, Geschäfte, Schilder, Lokale, Fenster, Busse. Auf vielen Fotografien, und das macht die Magie dieses malenden Auges aus, verdichten sich diese Elemente auf einem einzelnen Bild.

    Saul Leiter liebte den Regen. Er fotografierte hastende Passanten mit Regenschirmen, er sah durch regennasse Scheiben nach draußen, hielt die Unschärfen hinter angelaufen Fenstern fest. „Ein Foto einer verregneten Scheibe interessiert mich mehr als das Foto einer berühmten Person“, sagt Leiter als weiser alter Mann in einem Dokumentarfilm, in dem er mit melancholischer Heiterkeit auf sein Leben zurückblickt.

    Ein Künstler überlebt, weil er für Modemagazine fotografiert

    Der Film ist jetzt auch in einer Münchner Retrospektive zu Leiters Werk zu sehen, die die Deichtorhallen in Hamburg mit der Kulturstiftung der Versicherungskammer Bayern konzipiert haben. Eine Ausstellung, die den Autodidakten und Sohn eines bedeutenden US-Rabbiners gleichermaßen als Fotografen wie als Maler würdigt. Leiter ist ein spät entdeckter Farb-Künstler. Seine Bedeutung wurde erst Anfang der 1990er Jahre international erkannt. Er wunderte sich im Alter selbst darüber, wie er als junger Mann, der 1944 seine erste Galerie-Ausstellung mit Malerei hatte, „glauben konnte, überleben zu können.“ Er überlebte – auch, weil er Ende der 1950er Jahre begann, für Modemagazine zu fotografieren. Harpers Bazaar, ELLE, Vogue … Auch in diesem Genre blieb Saul Leiter bei seinem lyrischen, eigenwilligen Stil. In der Ausstellung sind Modehefte zu sehen – und gleich fällt einem ein Modell auf, dessen Gesicht hinter einem Fenster verschwimmt, an dem Regentropfen herunterrinnen.

    Fotografieren bei Regen und Schnee – es wäre ein Missverständnis, dies als „Masche“ abzutun. Saul Leiter fand darin Farbschlieren, Schleier, Unschärfen, fließende Formen und Farben, die das Alltagsgeschehen geheimnisvoll aufluden. Außerdem nutzte er das Wetter als Bühne: Auf einem großartigen Hochformat sind drei Viertel des Bildraumes schwarz – eine Markise. Darunter kämpfen im unteren Bildstreifen Passanten im grauen und weißen Schnee gegen den Wind. Auf anderen Fotos glaubt man die Stille zu hören, die sich mit dem Schnee in der Stadt ausbreitet. Saul Leiter ist der Fotograf, der das Verborgene aufspürt. Er selbst sagte: Das Geschenk eines Fotografen an den Betrachter besteht in der Schönheit des übersehenen Alltäglichen.

    Fotografieren mit Filmen, deren Haltbarkeitsdatum abgelaufen war

    Insbesondere Spiegelungen, denen man in einer dichten Stadt wie New York überall begegnet, faszinierten Saul Leiter. Sie erweiterten ihm die sichtbare Wirklichkeit. Wie geschickt er im Spiegellabyrinth New Yorks mit Reflexionen, Doppelbildern, Transparenz, surrealen Prismen, Silhouetten umgeht, wie sein Blick diese kaleidoskopischen Momente findet – das belegen Dutzende hinreißender Farbfotos.

    Seine beste Zeit hatte Leiter zweifellos in den 1950er Jahren. Vieles von dem, was er da auf 35 mm Kodachrome Farbdialfilm fotografierte, gehört zu den musealen Ikonen der frühen Farbfotografie. Der Fotograf bevorzugte, um Geld zu sparen, Filme, deren Haltbarkeitsdatum abgelaufen war – was eine eigene, sanfte Farbintensität hervorbrachte.

    Im Grunde war Saul Leiter, der als Maler bunt und farbenfroh, abstrakt und expressiv arbeitete, ein Pionier. Einer, der noch vor der „offiziellen“ Anerkennung des Farbfotos auf dem Kunstmarkt (allgemein mit William Egglestons Auftritt im Museum of Modern Art auf das Jahr 1976 datiert) jenseits des klassischen Schwarz-Weiß experimentierte. Im Alter sah der Künstler das entspannt. „Mag sein, du bist besser, als du denkst – lieber so rum als umgekehrt.“

    Aktfotos wurdenmit Farben übermalt

    Als Straßenfotograf war Saul Leiter zurückhaltend. Oft fotografierte er nicht frontal, sondern gleichsam aus einer Deckung. Sein Blick fand im Getümmel New Yorks oft „Lücken“. Ob es Autoscheiben waren, durch die er auf die andere Seite fotografierte, Türen von Läden oder die Gitterstäbe eines Gerüsts, durch die er nach draußen schaute – stets ist da eine Distanz zum Geschehen, ein fast schüchternes „Einfangen“ von Passanten und Szenen. Dieser Fotograf erkannte intuitiv das Potenzial von Szenerien. In Harlem etwa hatte er einen Mix aus Zeichen und Schriften (HOUSE. BAR) und darunter einen roten Lastwagen im Sucher – und dann löste er zweimal aus. Beide Fotos mit identischem Hintergrund sind in München im Kunstfoyer zu sehen: ein Schwarzer mit Hut, roter Krawatte und hellem Anzug, der eine Zigarette zwischen den Lippen klemmen hat. Und dann der Arbeiter, der einen Papiersack auf der Schulter trägt.

    Lebenslang war Saul Leiter auch ein passionierter Aktfotograf. Seine Aktfotos übermalte er in seinem Atelier farbig. So verschmolzen der Maler und der Fotograf in diesen Kunstwerken, bei denen Saul Leiter ganz bei sich war. Die Retrospektive zeigt zahlreiche Beispiele dieser Werkgruppe – wie auch Collagen und Gouachen aus dem Atelier, das Leiter ein halbes Jahrhundert im East Village hatte.

    Nur zwei Farbfotos sind aus den letzten Lebensjahren Saul Leiters zu sehen. 2009 und 2008 entstanden. Sie zeigen Straßenszenen in New York – einen Bus im Schnee, gesehen durch die mit Zetteln verklebte Tür aus dem Inneren eines Ladens. Und einen Fahrradfahrer, der hinter einem im Vordergrund angeschnittenen Laternenmasten fast verschwindet. Typisch Saul Leiter.

    Öffnungszeiten täglich bis 15. September, 9 bis 19 Uhr, Kunstfoyer der Versicherungskammer, Maximilianstraße 53. Eintritt frei

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