Der erste Band war blassrosa, man könnte auch lachsrosa dazu sagen, andere sprechen von einem Rosenholzton. Es gab eine Ranke auf dem Einband, den Titel in Frakturschrift. Und das Ganze kostete nur zwei Silbergroschen, also etwa so viel, wie ein Liter Milch. Zwischen den Umschlagseiten aber, handlich verpackt aufs Jackentaschenformat, steckte Kostbares! Goethes „Faust“. Und kaum war das schmale Buch im November 1867 auf dem Markt, musste es auch schon nachgedruckt werden. Innerhalb von nur zwei Monaten erreichte es eine Auflage von 20.000 Exemplaren. Wenn Bücherverkaufen nur noch immer so einfach wäre …
150 Jahre später ist die Nummer eins nur noch die Nummer zwei. Verdrängt nämlich von der Nummer zwölf: Schillers „Wilhelm Tell“ führt mit 5,4 Millionen verkauften Exemplaren die Top Ten (gezählt seit 1948) der Universal-Bibliothek von Reclam an, „Faust“ folgt auf Platz zwei mit 4,9 Millionen und dahinter Kellers „Kleider machen Leute“... Die Schulklassiker. Und der „Faust“ kostet auch nicht mehr zwei Groschen, sondern 2,20 Euro, kommt grellgelb daher, und wenn es um die Handlichkeit des Buches geht, wird eine andere Vergleichsgröße gewählt: iPhone-Format. Also das neue große. Der feine Stoff aber natürlich der gleiche!
1867: Zum ersten Mal gab es den feinen Stoff umsonst
Und damit zur Gründungsgeschichte der ältesten Buchreihe auf dem deutschen Markt: Den feinen Stoff nämlich gab es 1867 zum ersten Mal umsonst. Am 9. November trat eine neue Schutzfrist beim Urheberrecht in Kraft, gemeinfrei waren nun die Werke von Schriftstellern, die vor 30 Jahren oder mehr gestorben waren… Goethe, Schiller, Lessing, all die Klassiker, plötzlich ohne teure Tantiemen verfügbar! Der Leipziger Verleger Anton Philipp Reclam griff als Erster zu. Ein Start-up-Unternehmer! Mit 21 Jahren hatte der Buchhändlersohn bereits seinen ersten Verlag gegründet, eine Druckerei dazu gekauft, mit seiner „Wohlfeilen Unterhaltungsbibliothek für die gebildete Lesewelt“ versucht, Populäres billig unters Volk zu bringen, auch erfolgreich Shakespeare für nur zwei Groschen verkauft … Der große Coup aber gelingt nun mit sechzig: Am 10. November gibt Reclam Band eins seiner Universal-Bibliothek heraus, rollt den jungen Markt der Billigbücher auf. Nach „Faust“ folgt Lessings „Nathan der Weise“, dann Shakespeares „Romeo und Julia“. Bestsellerverdächtiges. In einer Anzeige wird das künftige Programm umrissen: Es handle sich um eine Sammlung von Einzelausgaben allgemein beliebter Werke, sprich, die Käufer mussten nicht ein damals übliches Abonnement abschließen. Und auch „Werke, denen das Prädikat ,classisch‘ nicht zukommt, die aber nichtsdestoweniger sich einer allgemeinen Beliebtheit erfreuen“, seien dabei.
Eine Mischkalkulation, die aufgeht. Auch weil andere Faktoren stimmen: Papier ist billiger, seit es mit pflanzlichen Fasern hergestellt wird. Und die Leser? Sind bildungshungriger denn je. Nicht nur das Bürgertum, sondern auch die Arbeiterschicht verlangt nach Lesestoff. Und Reclam gibt! Bis zum Ende 1868 schon 110 Nummern, nach den ersten zehn Jahren sind es knapp 1000 … Und noch einmal ein paar Jahre später findet sich die Reihe bereits selbst in der Literatur, schreibt Theodor Fontane in seinem Roman „Mathilde Möring“ über den Bürgermeistersohn Hugo Großmann, der bringe jeden zweiten Tag mehrere Romane nach Hause: „Es waren die kleinen Reclam-Bändchen, von denen immer mehrere auf dem Sofatisch lagen, eingeknifft und mit Zeichen oder auch mit Bleistiftstrichen versehen.“ Schon damals wurde demnach gekritzelt und zerfleddert, das Los der schmalen Hefte bis heute: niemals durch den Leser geschont!
1928: Thomas Mann schwärmt von der Marke Reclam
Als man zum 100. Jubiläum des Verlags 1928 bei Thomas Mann als Festredner anfragt, ist die Reihe also schon Marke, schwärmt der Schriftsteller dann auch öffentlich vom Verleger und dessen Idee: „Reclam glaubte an die Nachfrage, den Hunger der breiten Massen des deutschen Volkes nach dem Guten, nach Wissen, Bildung, Schönheit oder doch geistig anständiger Unterhaltung, und dieser Glaube, mit Vorsicht erworben, mit Vorsicht betätigt, wurde nicht enttäuscht.“ Was Thomas Mann in seiner Rede auch erwähnt, die kaufmännische Erfolgsformel: Massenauflage plus Spottpreis plus der Mix aus Klassischem und Populären. Ein halbes Jahrhundert kann Reclam den Preis für seine Best-of-Weltliteratur halten, verkauft bis 1940 für 20 Pfennig das Stück Goethe und Schiller sogar am Automaten. Literatur to go. Aber dann nicht mehr universal. Während des Dritten Reiches muss der Verlag jüdische oder politisch suspekte Autoren aus dem Programm nehmen. 1938 notiert der Völkische Beobachter: „Im allgemeinen kann man doch mit dem großen Aufräumen bei Reclam zufrieden sein; es kommen jetzt Tausende deutscher Leser, vor allem das Volk und die Jugend, nicht mehr so leicht an die durchweg gefährlichen jüdischen Dichter und Schriftsteller heran.“ Die Reihe ist da aber schon so gewaltig, dass getarnt unterm Reclam-Mantel dennoch etliche antifastische Streitschriften auch weiterhin erscheinen können.
Dass es nach dem Krieg zwei Reihen gab, eine verlegt in Leipzig, eine in Stuttgart, später in Ditzingen, zählt zur besonderen Geschichte des Verlages. Die Ost-Bände waren beige oder schwarz, die West-Bände ab dem Jahr 1970 gelb – das Design entworfen von Willy Fleckhaus und bis heute das Markenzeichen. So schlicht wie möglich, nirgends sonst kommt Weltliteratur so unscheinbar daher wie bei Reclam. Andere Farben sind seitdem hinzugekommen: Blau für die Schulreihe, Rot für die fremdsprachigen Ausgaben, Orange für die zweisprachigen, Grün für die Erläuterungen, Magenta für die Sachbücher… Alle aber bestens zum Verzieren geeignet. Und zumindest die Gelben in jeder Schulkarriere unvermeidbar. Stichwort: „Die gelbe Gefahr“. Das Jubiläum feiert der Verlag, der drei Viertel seines Umsatzes mit Universalbibliothek macht, daher auch mit einer Prise Selbstironie unter dem Motto: „Gehasst. Geliebt. Gelesen!“ Und hat im Übrigen einen Wettbewerb an Schulen ausgelobt, für‘s schönste selbstgestaltete Cover. Längst gibt es auch ein kleines Reclam-Heft, gefüllt mit von Schülern bekritzelten Umschlägen: „Kotz von Berlichingen“? Da wird wohl keine Liebe mehr draus geworden sein! Vielleicht aber dafür bei „Kaba und Liebe“. Dass auch der frühere CSU-Ministerpräsident Franz Josef Strauß ein offenbar verkorkstes Verhältnis zu den Heften hatte, passt da als kleine Randnotiz. Der beschimpfte seine Kollegen von der CDU einst als „Reclam-Ausgabe von Politikern“.
Reclams Zukunftsdevise: Billig und gut kann nicht jeder
Und die Zukunft? Wo es doch die Klassiker mittlerweile zum Nulltarif im Internet gibt? Bei Reclam, längst im digitalen Geschäft tätig, hält man sich weiter an die Devise: Billig kann jeder, billig und gut, also auch Hausarbeits- und Dissertationstauglich, aber nicht! Neun Lektoren betreuen die Reihe. Das meistverkaufte Reclam-Heft in diesem Jahr übrigens: Die Nummer eins. „Faust“!