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Premieren-Kritik: Staatstheater Augsburg: Krasse Flugreise mit "Orfeo ed Euridice"

Premieren-Kritik

Staatstheater Augsburg: Krasse Flugreise mit "Orfeo ed Euridice"

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    Das Staatstheater Augsburg inszeniert die Gluck-Oper „Orfeo ed Euridice“.
    Das Staatstheater Augsburg inszeniert die Gluck-Oper „Orfeo ed Euridice“. Foto: Jan-Pieter Fuhr

    Ein paar Prozentpunkte hin oder her: geschenkt. Jedenfalls dürfte es in etwa so sein, dass ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung nicht mehr weiß, was ein Zink ist, und ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung noch nicht die VR-Brille kennt. Genau zwischen diesen beiden Polen, zwischen historischem Blasinstrument und allerneuester visueller Technik, bewegt sich die erste szenische Opernproduktion des Staatstheaters Augsburg in der neuen Spielzeit und in der Corona-Pandemie.

    „Orfeo ed Euridice“: So spektakulär wie exzentrisch

    Die Spannweite der Darstellungsformen für Glucks italienische Oper „Orfeo ed Euridice“ zeigt sich mithin extremst – geschichtsbewusst im Klanggewand und futuristisch in der visuellen Verpackung. Das ist so spektakulär wie exzentrisch, so horizonterweiternd wie aufreizend für ein doppelt staunendes Publikum. Weil es hier einerseits einen neuen Weg erlebt, den wohl noch kein Theater zuvor beschritten hat, und weil es andererseits quasi wenige Stunden zuvor gewahr werden musste, dass in der Augsburger Stadtbevölkerung nun zum zweiten Mal Sturmgeschütze in Form eines Bürgerbegehrens gegen den notwendigen Sanierungsfortgang im denkmalgeschützten Theater aufgefahren werden. Allüberall stoßen sich die Dinge außerordentlich hart im Raum.

    Das Staatstheater Augsburg inszeniert die Gluck-Oper „Orfeo ed Euridice“.
    Das Staatstheater Augsburg inszeniert die Gluck-Oper „Orfeo ed Euridice“. Foto: Jan-Pieter Fuhr

    Das Auge reagiert oft schneller als das Ohr. Was also hat es optisch auf sich mit diesem Orfeo aus dem Jahr 1762? So wie einst Hans Neuenfels in seiner berühmt gewordenen „Aida“-Inszenierung erst einmal einen Archäologen die Kopfskulptur der äthiopischen Königstochter ausgraben ließ, um sich dann in die ägyptische Geschichte hineinzugraben, so lässt André Bücker, der Augsburger Intendant, in seiner „Orfeo“-Regie den mythischen Sänger als einen Twen von heute auftreten, der sich in einer Gemäldegalerie schwärmerisch, ja obsessiv mit der Sage um die Rückholung der Schönheit Euridice aus dem Totenreich – kraft der Musik – identifiziert. Und so begibt sich das Publikum per VR-Brille und deren dreidimensional-bewegten künstlichen Welten (Produktion: heimspiel) auf eine krasse, abenteuerliche Reise.

    Es landet im Sturzflug mit Orfeo in der Unterwelt – hier eine dystopisch-asiatische Unterhaltungshölle voll von (Drachen-)Furien, die zu besänftigen sind. Es schwebt mit Orfeo zu Euridice ins Elysium – hier ein surrealer, neureicher, bonbonbunt-kitschiger Skulpturenpark. Und es kehrt zurück mit Orfeo in eine Bühnenrealität des MartiniPark-Theaters, die deutliche Desillusion aufbietet: Das frischvermählte Paar Orfeo und Euridice, das fortan nichts mehr trennen wird, findet sich – zappelnd wie Insekten im Spinnennetz – auf dem Sofa eines frisch eingerichteten, bürgerlichen, normmodernen Wohnzimmers wieder. Das war eigentlich nicht der Plan. Jene Gemäldegalerie (Bühnenbild: Jan Steigert), die der Ausgangspunkt der fantastischen Reise ist, hat sich zu einer allgemeinen Schlaf- und Wohnstätte verwandelt.

    Staatstheater-Intendant Bücker inszeniert die Oper selbst

    Dabei war sie durch André Bücker und seine Kostümbildnerin Lili Wanner im ersten Akt wahrhaft illuster bevölkert worden: Jonathan Meese, der kunstdiktatorische deutsche Maler salutiert mal wieder stramm – erhob er womöglich auch mal den rechten Arm? – und betätigt sich mit Sprühdose als Kunstschänder. Marina Abramovic, die Performerin, die neulich die Maria Callas in München mimte, wirft sich in Opern-Pose und in ein Duell mit Meese. Und auch der Dürer Albrecht schaut als Münchner Pinakotheken-Jesus verkleidet herein. Vor einem Großen, der nach ihm kam, wirft er sich schier auf den Boden: Caravaggio. Denn die Gemäldegalerie, Abteilung Barock, zeigt ja gerade eine Caravaggio-Sonderschau. Stets ist dabei um die Werke zu bangen: Nicht nur wegen Meese, sondern auch wegen der Touristen und des Personals, die sich darin eher hemdsärmelig bewegen. Nicht jeder vertieft sich so empathisch, so zielgerichtet, so manisch in die Kunst wie Orfeo.

    Und dieses Jonglieren mit dem Nebeneinander diverser Vorstellungswelten, in die die Protagonisten rasch eintauchen, aus denen sie rasch auch flüchten können, macht Bückers Inszenierung so neuartig, überraschend, effektvoll, intelligent. Sie ist alles andere als still und edel. Bühnenrealität und Bühnensurrealität, Imagination und Wahn, Albtraum und Hoffnungsvision, theatrales Nachspielen sowie die technische Gaukelei Virtual Reality – man wechselt die irrealen Räume wie zu Hause die TV-Programme. Ein Kosmos, an dem kein Theaterfreund vorbeikommt.

    Allerdings hat er einen Preis. Gluck suchte in seiner Reformoper ja sowohl für die Handlung als auch für die Musik eine einfache, konzentrierte, geradlinige Größe. Wenn er also konzeptionell klar auf den Reiz musikalischer Virtuosität verzichtete (keine Affekte! keine Koloraturen!), dann führt Bücker konzeptionell, quasi durch die Hintertür, den Reiz visueller Virtuosität ein. Erst findet man sich im Wimmelbild der Gemäldegalerie, später in den ungeahnt neuen virtuellen Welten. Die Informationsdichte ist schon erklecklich hoch; das will erst mal von jedem hübsch sortiert werden.

    Und nicht unproblematisch bleibt auch die Auslagerung der Augsburger Philharmoniker plus einiger Gäste auf Zink und Laute. Ihr Spiel unter dem durchaus sensibel leitenden Dirigenten Wolfgang Katschner wurde aus dem Probensaal in den Theatersaal übertragen und – mitunter übersteuert – verstärkt. Das Verfahren ist ein Kompromiss, bedingt durch die Corona-Abstandsregelungen – insofern: kein Vorwurf! Die Gemäldegalerie und der darin prächtig homogen agierende Chor brauchen Raum. Aber leider: Die akustische Attraktivität historischer Instrumente, die Attraktivität von „unplugged“ eben, sie blieb durch die Dezibel-Verstärkung deutlich eingeschränkt.

    Und herauszufiltern aus dem allgemeinen Umtrieb sind auch die Gefühlslagen der anrührend singenden Solistinnen: schmerzlich-elegisch der Orfeo von Natalya Boeva, betrübt-vorwurfsvoll die Euridice der Jihyun Cecilia Lee, keck-spielerisch der Amor von Olena Sloia. So wirkungsstark die Produktion ist: Das Auditorium hat auf Zack zu sein, will es auch musikalisch alles mitkriegen. Großer Applaus.

    Die nächsten Vorstellungen im Martini-Park sind am 17. und 18. Oktober sowie am 1., 14., 20., 26. und 27. November.

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