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Porträt: Avishai Cohen: Der Jazz-Star und der Klang der Krise

Porträt

Avishai Cohen: Der Jazz-Star und der Klang der Krise

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    Ein Hipster des Jazz: Avishai Cohen, Jahrgang 1978, aus Tel Aviv.
    Ein Hipster des Jazz: Avishai Cohen, Jahrgang 1978, aus Tel Aviv. Foto: Sam Harfouche, ecm Records

    Ein Balkon-Konzert, wie dies zahlreiche Musiker in Italien derzeit zum Zwecke der moralischen Aufrüstung ihrer Mitmenschen praktizieren? Muss nicht sein! "Man könnte das auch als Ruhestörung auffassen, weil die Trompete nun mal alles andere als leise ist", gibt Avishai Cohen zu bedenken. "Außerdem will ich mich auf keinen Fall aufdrängen. Es kann ja sein, dass meine Musik nicht jedem gefällt." Zum Üben zieht er sich deshalb lieber in sein Arbeitszimmer zurück und nutzt die technischen Möglichkeiten des Instrumentes in Form eines aufgesetzten Kunststoff- oder Gummidämpfers: "Das geht. Muss gehen, irgendwie."

    Schwere Zeiten, auch für Jazzmusiker, ganz egal, ob sie in New York, Paris, München oder Tel Aviv leben. Die Welt unter Hausarrest. Für Avishai Cohen bedeutet das: keine Konzerte oder Tourneen, keine Proben mit den Bandkollegen, keine PR-Termine. Für einen unbestimmten Zeitraum sieht sich jeder auf sich selbst und die Familie zurückgeworfen. Eine Situation, der er durchaus etwas abgewinnen kann: "Meine beiden Kinder können nicht mehr zur Schule. Sie sind neun und 13. So viel Zeit haben wir noch nie zusammen verbracht." Denn bislang war Papa meistens weg, viel beschäftigt unterwegs rund um den Globus. Immerhin gilt der 42-jährige Israeli als der derzeit interessanteste junge Trompeter eines Genres, das sich im 21. Jahrhundert zunehmend schwerer unter den bekannten Parametern des Jazz einordnen lässt.

    Den Hype um diesen Hipster bremst auch das Virus nicht

    Der Hype um den gertenschlanken, tätowierten Hipster mit dem üppigen Fusselbart und den großen Ringen an den Fingern, den manche sogar schon mit Miles Davis vergleichen, nimmt mittlerweile spannende Ausmaße an. Dabei spielt der Spross aus der Jazzer-Familie Cohen (mit der nicht minder populären Klarinettisten-Schwester Anat und des eleganten Saxofonisten-Bruders Yuval) weder retro noch futuro. Sein Ton wirkt mal klagend, mal klar, dann wieder strahlend schön, übermütig, verloren, dunkel, leuchtend oder wahlweise weich. Der Mann lädt zu imaginären Spaziergängen durch die nächtlichen Straßen Manhattans ein oder winkt aus der osteuropäischen Klassik herüber. Schwarze Tradition, russischer Schwermut und eine Unbefangenheit dem klassischen Jazz gegenüber, die vielleicht nur jemand zur Schau stellen kann, der von ganz woanders herkommt. Ob Blues oder Avantgarde – alles scheint ihm gleich nah zu sein.

    Avishai Cohen – den längst niemand mehr mit dem gleichnamigen, aber nicht verwandten Bassisten aus der Band von Chick Corea verwechselt – gilt als Meister der Nuancen, was jedoch nie mit vielseitiger Beliebigkeit verwechselt werden sollte. Seine Kunst beschert ihm euphorische Besprechungen allerorten und ausverkaufte Konzerte, vor allem, seit er bei der Münchner Klangmanufaktur ECM unter Vertrag kam, wo Manfred Eicher akribisch daran feilt, einen neuen Weltstar aufzubauen. Drei höchst abwechslungsreiche Alben hat der Produzent und Label-Eigner mit dem Rohdiamanten bereits veröffentlicht.

    Avishai Cohen bietet den Gegenentwurf zu einer klassischen Jazzbesetzung

    Nach "Into The Silence" (2015), "Cross My Palm With Silber" (2016) und dem Duo mit dem Pianisten Yonathan Avishai "Playing The Room" (2018) folgt ausgerechnet in diesen Tagen mit "Big Vicious" die ziemlich radikale Abkehr vom sogenannten Jazzjazz, wie er in New York, wo er noch bis vor einigen Jahren lebte, immer noch in den meisten Clubs wie ein Virus grassiert. Dass ECM im Gegensatz zu den meisten Mitbewerbern, die ihre Neuerscheinungen auf die vermeintlich konsumfreundlichere Zeit nach Corona verschoben haben, am ursprünglich geplanten Veröffentlichungstermin festhielt, spricht für den Glauben an die Nachhaltigkeit Avishai Cohens.

    "Ich freue mich über jedes Interview", sagt der Protagonist bescheiden, und man spürt am Telefon, dass er derzeit gerne mehr machen würde, als nur herumzusitzen und auf den berühmten Tag X zu warten, bis er wieder vor Publikum und mit seinen Kumpels spielen darf. Denn schließlich ist "Big Vicious" das Klang gewordene Happy End eines Jugendtraums, ein Herzensprojekt, in dem er und seine Freunde ihre Liebe für die Musik der 1990er Jahre, vor allem für Massive Attack (deren "Teardrop" auf der CD auftaucht), ausleben dürfen. Zwei Schlagzeuger (Aviv Cohen, Riv Ravitz), zwei Gitarren (Uzi Ramirez, Yonatan Albalak) und dazwischen Cohen, der sich wie ein melodischer Efeu um seine Trompete zu wickeln scheint, als Balance und Sahnehäubchen. Wie schon erwähnt: Der Gegenentwurf zu einer klassischen Jazzbesetzung. Hier geht es um etwas anderes, etwas Wildes, auch ein wenig Bösartiges. Big Vicious!

    Avishai Cohen: "In Zeiten wie diesen geht es darum, ruhig zu bleiben und abzuwarten"

    "Wir kommen alle vom Jazz, aber einige von uns haben ihn früher verlassen", bringt der Trompeter, dessen Floskeln und Linien mehr an Hooklines und Vocals von Rocksongs als an die Sechzehntelketten von Jazzstandards erinnern, die multiplen Fähigkeiten seiner Crew auf den Punkt. Auf diese Weise entstanden elf zauber- und rätselhafte Texturen aus Ambient, Psychedelia, Electronica, Pop, Trip-Hop, Beats und Grooves, angereichert durch Avishais Farbenspielereien mit dem Synthesizer. Ein Wechselspiel der Kontraste mit verblüffenden Wirkungen. Dass mit dem Tel Aviver Musikproduzenten und DJ Yuvi Havkin – besser bekannt unter dem Künstlernamen Rejoicer – ein jazzaffiner Kreativkopf aus einem anderen Genre an der Entstehung von mindestens drei Takes mitwirkte, empfindet Cohen als Bereicherung. "Alle waren am Kompositionsprozess beteiligt. Es gab viele Diskussionen darüber, wie wir die Musik haben wollten und wie sie klingen sollte. In dieser Band geht es nicht wirklich um Soli, sondern darum, wie ein Song entstehen kann, auch wenn niemand dabei singt."

    In der Tat gab es eine derartige Arbeitsweise in seiner bereits abwechslungsreichen Bio- und Diskografie noch nie. Live-Aufnahmen wurden unmittelbar danach im Kollektiv abgehört, um Nuancen zu erkennen, die verbessert werden könnten. "Wir zoomten die Stücke heran, analysierten die Abläufe wie bei einem Fußballteam. Das war perfektes Feintuning." Am Ende des Tages ist "Big Vicious" dennoch ein Jazzalbum geworden, weil es Manfred Eicher in seiner meisterhaften Konsequenz gelang, die improvisatorischen Instinkte der Band zu wecken. Musik in Schwarz-Weiß, passend zu leeren Innenstädten, düsteren Aussichten und melancholischen Stimmungslagen. Ein Soundtrack für die Corona-Krise? Avishai Cohen denkt einige Sekunden nach. In Zeiten wie diesen, sagt er dann, gehe es darum, ruhig zu bleiben und abzuwarten. "Wer das nicht schafft, der muss sich selbst hinterfragen."

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