Was bedeutet das für uns? Mit dieser Frage darf, nein, muss man an dieses letzte Großwerk des großen Denkers Jürgen Habermas gehen. Denn er selbst sieht ja gerade den besonderen Auftrag seiner Disziplin darin, dass sie mehr als nur Spezialwissenschaft oder Denksport betreibt; dass sie nach wie vor versucht, zur „rationalen Klärung unseres Selbst- und Weltverständnisses beizutragen“. So schreibt der heute 90-Jährige schon zu Beginn des Werkes: „ …sie unterscheidet nämlich zwischen Wissenschaft und Aufklärung, wenn sie erklären will, was unsere wachsenden wissenschaftlichen Kenntnisse von der Welt für uns bedeuten – für uns als Menschen, als moderne Zeitgenossen und als individuelle Personen.“
Und am Ende, 1700 Seiten später, knüpft Habermas diesen Anspruch auch an Krisen-Erscheinungen der Gegenwart: „Die soziale Ungleichheit, die politisch unregulierte Märkte regelmäßig erzeugen, und die repressive Gleichsetzung nationaler Mehrheitskulturen mit einer politischen Kultur, in der sich auch die Bürger anderer kultureller Herkunft müssten wiedererkennen können …“ Was also kann die Aufklärung, die Habermas meint, für den Menschen noch sein – und was kann sie in Gesellschaften ausrichten, die durch emotionalisierte Debatten und hermetisch Hass schürende „soziale Netzwerke“ zersetzt zu werden drohen?
Habermas schlägt dazu den ganz großen Bogen. Gut zehn Jahre hat er an dem Werk gearbeitet, das er nun, ein paar Monate nach seinem 90. Geburtstag, vorlegt. Er hat dazu seine üblichen Referenzdenker wie Kant, Hegel und Marx wiedergelesen, sich aber auch mit einigem erstmals beschäftigt: etwa dem mittelalterlichen Philosophen und Kirchenvater Augustinus. Habermas beschreibt in diesem Werk, das er wie einst Herder „Auch eine Geschichte der Philosophie“ nennt, seine Lesart der Entwicklung des menschlichen Denkens über sich selbst und die Welt. Wer also ein informatives, leicht zugängliches Überblickswerk über die Philosophiegeschichte sucht, muss zu anderem greifen, kann sich beispielsweise an die dreibändig durch die Bestsellerlisten tänzelnde Nacherzählung eines Richard David Precht wenden.
Heute sind komplette Weltbilderunwiederbringlich verloren
Bei Habermas erfordert die Lektüre Monate und Vorkenntnis – denn als systematischer Philosoph liegt sein Schwerpunkt in der Deutung der Geschichte. Und er deutet sie als eine Transformation vom Glauben zum Denken. In gröbsten Zügen: Im ersten Jahrtausend vor Christus, nach Karl Jaspers der „Achsenzeit“, sind die großen, kulturstiftenden Weltbilder entstanden, in denen der Glaube das Ganze erklärt und zugleich den Menschen verortet. Dann setzt in unterschiedlichen Geschwindigkeiten derselbe Prozess ein: Mit der Entwicklung der Wissenschaft steht das Bild des Glaubens zusehends infrage – und der Philosophie wächst die neue Rolle der Vermittlerin der ersten Zusammenhänge und letzten Gründe zu – als Metaphysik. Spätestens im 20. Jahrhundert aber zerfällt auch dieser Anspruch. Habermas nennt unsere Zeit die des „nachmetaphysischen Denkens“ – weil aufgrund des immer weiter fortschreitenden Wissen komplette Weltbilder unwiederbringlich verloren seien und damit auch jede über seine eigene Geschichte hinausweisende Rolle des Menschen. Was bleibt?
Bei Habermas bleibt offenbar zweierlei. Er beschreibt zwar vor allem die Entwicklung des westlichen Denkens, ist aber überzeugt, „dass alle Zivilisationen dieselben evolutionären Stufen durchlaufen, sodass sich aus der Erschütterung der gleich Formen der gesellschaftlichen Integration ähnlich herausfordernde Probleme ergeben“. Und der Philosoph postuliert: „Der Mensch kann nicht nicht lernen.“
So gibt es nach Habermas zwar keine der Geschichte innewohnende Zielrichtung der Geschichte (wie noch beim Metaphysiker Hegel) – aber doch eine unweigerliche Entwicklung der Zivilisationen in eine Lage, wie sie im Westen bereits zu erleben ist, in der die Aufklärung neu vor einer neuen Existenzfrage steht: „ …ob wir auf den historischen Spuren der Lernprozesse endlicher Subjekte im Bewusstsein unserer Fallibilität nach wie vor versuchen können, von unserer Vernunft einen autonomen, also von selbst gegebenen Normen geleiteten Gebrauch zu machen, um auf unser gesellschaftliches Dasein doch noch einen, wie immer geringen, aber praktisch gestaltenden Einfluss zu nehmen – oder ob es dafür keinen Spielraum gibt, sodass wir zu der fatalistischen beziehungsweise ‚realistischen‘ Einsicht genötigt sind, gegebene Präferenzen auf der Grundlage des technisch verwertbaren Wissens der objektivierbaren Wissenschaften an die selbsterzeugte gesellschaftliche Komplexität unbeherrschbarer systemischer Zusammenhänge auf kluge Weise anzupassen.“
Wie können wir uns heute Begriffe wieMoralität und Sittlichkeit vernünftig aneignen?
Und so führt Habermas’ Philosophiegeschichte zu Habermas selbst. Ohne „die Idee einer rettenden Gerechtigkeit“, die auch durch eine nostalgische Sehnsucht nach alten Weltordnungen nicht wiederzugewinnen ist, entscheidet darüber ihm zufolge, ob wir uns Begriffe wie „Moralität“ und „Sittlichkeit“ aus der religiösen Überlieferung „vernünftig anzueignen“ verstehen. Und das kann uns nach Habermas nur in der Besinnung auf die uns allein verbliebene, gemeinsame „Lebenswelt“ gelingen – und über deren Gestaltung müssen wir uns „im Horizont überzeugender Gründe“ verständigen. Damit sich in diesem Sinne einer gemeinsam zu gestaltenden Aufklärung die Vernunft durchsetzt, muss sich die Rationalität der besseren Argumente, müssen Argumentationsteilnehmer rational motiviert sein. Und dazu wiederum bräuchte es „die Intuition eines nicht-ganz-verfehlten Lebens und die Sensibilität für nicht ganz misslingende Formen des individualisierten Zusammenlebens von Ich und Anderen“.
Das zeigt: Man sollte Jürgen Habermas angesichts des tatsächlichen Zustands unserer Debattenkultur eher nicht als einen allzu idealistischen, realitätsblinden Träumer der Vernunft verstehen. Sondern für uns soll sein Vermächtnis bedeuten: Hier mahnt einer – nun mit der ganzen Wucht der Philosophiegeschichte –, dass uns und unsere Gesellschaften nur noch die gemeinsame Besinnung auf die Rationalität der Argumente retten kann. Es gibt kein größeres Schicksal, keine höhere Ordnung – es gibt nur verschiedene Zivilisationen in verschiedenen Stadien ihres Verlusts. Und es gibt kein Zurück. Wenn es mit uns noch im Sinne eines (mit-)menschlichen Lebens weitergehen soll, können wir nur miteinander lernen, vernünftig zu werden.
Jürgen Habermas: Auch eine Geschichte der Philosophie. Suhrkamp, 2 Bände, 1752 S., 98 ¤